in Wolken und Nacht; mit gesenkten Masten flogen wir dahin, und ehe wir die Segel eingezogen hatten, krach¬ ten die Stangen zusammen und die Segeltücher zerrissen in Stücke. Endlich arbeiteten wir uns ans Gestade und lagen dort zwei Tage und Nächte vor Anker, bis wir die Masten wieder aufgerüstet und neue Segel aufgespannt hatten. Wir steuerten nun wieder vorwärts und hatten alle Hoffnung, bald in die Heimath zu gelangen, wäre nicht, eben als wir ums Vorgebirge Malea, an der Südspitze der Pelopsinsel von Griechenland, herumschiff¬ ten, der Wind plötzlich in Nord umgeschlagen und hätte uns seitwärts in die offene See hineingetrieben. Da wurden wir nun neun Tage vom Sturm herumgeschleu¬ dert; am zehnten gelangten wir ans Ufer der Lotopha¬ gen, die sich von nichts als Lotosfrucht nähren. Hier stiegen wir ans Gestade und nahmen frisches Wasser ein. Dann sandten wir zwei unserer Freunde auf Kund¬ schaft aus, und ein Herold mußte sie begleiten. Diese gelangten in die Volksversammlung der Lotophagen, und wurden von diesem gutmüthigen Volke, dem es nicht in den Sinn kam, etwas zu unserem Verderben zu unter¬ nehmen, auf das freundlichste empfangen. Aber die Frucht des Lotos, welche sie ihnen zu kosten gaben, hat eine ganz eigenthümliche Wirkung, Sie ist süßer als Honig, und wer von ihr kostet, der will nicht mehr von der Heimkehr wissen, sondern immer in dem Lande blei¬ ben. So mußten wir denn auch unsre Genossen auf¬ suchen und, während sie weinten und widerstrebten, mit Gewalt nach den Schiffen zurückführen.
Auf unsrer weiteren Fahrt kamen wir nun zu dem wildlebenden grausamen Volke der Cyklopen. Diese bauen
in Wolken und Nacht; mit geſenkten Maſten flogen wir dahin, und ehe wir die Segel eingezogen hatten, krach¬ ten die Stangen zuſammen und die Segeltücher zerriſſen in Stücke. Endlich arbeiteten wir uns ans Geſtade und lagen dort zwei Tage und Nächte vor Anker, bis wir die Maſten wieder aufgerüſtet und neue Segel aufgeſpannt hatten. Wir ſteuerten nun wieder vorwärts und hatten alle Hoffnung, bald in die Heimath zu gelangen, wäre nicht, eben als wir ums Vorgebirge Malea, an der Südſpitze der Pelopsinſel von Griechenland, herumſchiff¬ ten, der Wind plötzlich in Nord umgeſchlagen und hätte uns ſeitwärts in die offene See hineingetrieben. Da wurden wir nun neun Tage vom Sturm herumgeſchleu¬ dert; am zehnten gelangten wir ans Ufer der Lotopha¬ gen, die ſich von nichts als Lotosfrucht nähren. Hier ſtiegen wir ans Geſtade und nahmen friſches Waſſer ein. Dann ſandten wir zwei unſerer Freunde auf Kund¬ ſchaft aus, und ein Herold mußte ſie begleiten. Dieſe gelangten in die Volksverſammlung der Lotophagen, und wurden von dieſem gutmüthigen Volke, dem es nicht in den Sinn kam, etwas zu unſerem Verderben zu unter¬ nehmen, auf das freundlichſte empfangen. Aber die Frucht des Lotos, welche ſie ihnen zu koſten gaben, hat eine ganz eigenthümliche Wirkung, Sie iſt ſüßer als Honig, und wer von ihr koſtet, der will nicht mehr von der Heimkehr wiſſen, ſondern immer in dem Lande blei¬ ben. So mußten wir denn auch unſre Genoſſen auf¬ ſuchen und, während ſie weinten und widerſtrebten, mit Gewalt nach den Schiffen zurückführen.
Auf unſrer weiteren Fahrt kamen wir nun zu dem wildlebenden grauſamen Volke der Cyklopen. Dieſe bauen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0146"n="124"/>
in Wolken und Nacht; mit geſenkten Maſten flogen wir<lb/>
dahin, und ehe wir die Segel eingezogen hatten, krach¬<lb/>
ten die Stangen zuſammen und die Segeltücher zerriſſen in<lb/>
Stücke. Endlich arbeiteten wir uns ans Geſtade und<lb/>
lagen dort zwei Tage und Nächte vor Anker, bis wir<lb/>
die Maſten wieder aufgerüſtet und neue Segel aufgeſpannt<lb/>
hatten. Wir ſteuerten nun wieder vorwärts und hatten<lb/>
alle Hoffnung, bald in die Heimath zu gelangen, wäre<lb/>
nicht, eben als wir ums Vorgebirge Malea, an der<lb/>
Südſpitze der Pelopsinſel von Griechenland, herumſchiff¬<lb/>
ten, der Wind plötzlich in Nord umgeſchlagen und hätte<lb/>
uns ſeitwärts in die offene See hineingetrieben. Da<lb/>
wurden wir nun neun Tage vom Sturm herumgeſchleu¬<lb/>
dert; am zehnten gelangten wir ans Ufer der Lotopha¬<lb/>
gen, die ſich von nichts als Lotosfrucht nähren. Hier<lb/>ſtiegen wir ans Geſtade und nahmen friſches Waſſer<lb/>
ein. Dann ſandten wir zwei unſerer Freunde auf Kund¬<lb/>ſchaft aus, und ein Herold mußte ſie begleiten. Dieſe<lb/>
gelangten in die Volksverſammlung der Lotophagen, und<lb/>
wurden von dieſem gutmüthigen Volke, dem es nicht in<lb/>
den Sinn kam, etwas zu unſerem Verderben zu unter¬<lb/>
nehmen, auf das freundlichſte empfangen. Aber die<lb/>
Frucht des Lotos, welche ſie ihnen zu koſten gaben, hat<lb/>
eine ganz eigenthümliche Wirkung, Sie iſt ſüßer als<lb/>
Honig, und wer von ihr koſtet, der will nicht mehr von<lb/>
der Heimkehr wiſſen, ſondern immer in dem Lande blei¬<lb/>
ben. So mußten wir denn auch unſre Genoſſen auf¬<lb/>ſuchen und, während ſie weinten und widerſtrebten,<lb/>
mit Gewalt nach den Schiffen zurückführen.</p><lb/><p>Auf unſrer weiteren Fahrt kamen wir nun zu dem<lb/>
wildlebenden grauſamen Volke der Cyklopen. Dieſe bauen<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[124/0146]
in Wolken und Nacht; mit geſenkten Maſten flogen wir
dahin, und ehe wir die Segel eingezogen hatten, krach¬
ten die Stangen zuſammen und die Segeltücher zerriſſen in
Stücke. Endlich arbeiteten wir uns ans Geſtade und
lagen dort zwei Tage und Nächte vor Anker, bis wir
die Maſten wieder aufgerüſtet und neue Segel aufgeſpannt
hatten. Wir ſteuerten nun wieder vorwärts und hatten
alle Hoffnung, bald in die Heimath zu gelangen, wäre
nicht, eben als wir ums Vorgebirge Malea, an der
Südſpitze der Pelopsinſel von Griechenland, herumſchiff¬
ten, der Wind plötzlich in Nord umgeſchlagen und hätte
uns ſeitwärts in die offene See hineingetrieben. Da
wurden wir nun neun Tage vom Sturm herumgeſchleu¬
dert; am zehnten gelangten wir ans Ufer der Lotopha¬
gen, die ſich von nichts als Lotosfrucht nähren. Hier
ſtiegen wir ans Geſtade und nahmen friſches Waſſer
ein. Dann ſandten wir zwei unſerer Freunde auf Kund¬
ſchaft aus, und ein Herold mußte ſie begleiten. Dieſe
gelangten in die Volksverſammlung der Lotophagen, und
wurden von dieſem gutmüthigen Volke, dem es nicht in
den Sinn kam, etwas zu unſerem Verderben zu unter¬
nehmen, auf das freundlichſte empfangen. Aber die
Frucht des Lotos, welche ſie ihnen zu koſten gaben, hat
eine ganz eigenthümliche Wirkung, Sie iſt ſüßer als
Honig, und wer von ihr koſtet, der will nicht mehr von
der Heimkehr wiſſen, ſondern immer in dem Lande blei¬
ben. So mußten wir denn auch unſre Genoſſen auf¬
ſuchen und, während ſie weinten und widerſtrebten,
mit Gewalt nach den Schiffen zurückführen.
Auf unſrer weiteren Fahrt kamen wir nun zu dem
wildlebenden grauſamen Volke der Cyklopen. Dieſe bauen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/146>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.