"Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes; die Menschen kennen mich und der Ruhm meiner Klugheit ist über die Erde verbreitet. Auf der sonnigen Insel Ithaka wohne ich, in deren Mitte sich das waldige Ge¬ birge Neriton erhebt; rings umher liegen viele kleinere bewohnte Eilande, Same, Dulichium, Zazynthus. Meine Heimath ist zwar rauh; doch nähret sie frische Männer, und das Vaterland ist einem jeden das Süßeste! Wohlan nun, vernehmet von meiner unglückseligen Heim¬ fahrt von der trojanischen Küste! Von Ilium weg trug mich der Wind nach der Cikonenstadt Imarus, die ich mit meinen Genossen eroberte. Die Männer vertilgten wir; die Frauen samt der andern Beute wurden ver¬ theilt. Nach meinem Rathe hätten wir uns nun eilig davongemacht. Aber meine unbesonnenen Begleiter blie¬ ben schwelgend bei der Beute sitzen, und die entflohenen Cikonen, durch ihre landeinwärts wohnenden Brüder ver¬ stärkt, überfielen uns beim Schmaus am Gestade. Die Uebermacht siegte. Sechs Freunde von jedem unsrer Schiffe blieben auf dem Platze, wir andern entgingen dem Tode nur durch schleunige Flucht.
Also steuerten wir weiter westwärts, froh der To¬ desgefahr entronnen zu seyn, aber von Herzen traurig über den Tod unserer Genossen. Da sandte Jupiter uns einen Orkan aus Norden. Meer und Erde hüllten sich
Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten.
Cikonen. Lotophagen. Cyklopen. Polyphen.
„Ich bin Odyſſeus, der Sohn des Laertes; die Menſchen kennen mich und der Ruhm meiner Klugheit iſt über die Erde verbreitet. Auf der ſonnigen Inſel Ithaka wohne ich, in deren Mitte ſich das waldige Ge¬ birge Neriton erhebt; rings umher liegen viele kleinere bewohnte Eilande, Same, Dulichium, Zazynthus. Meine Heimath iſt zwar rauh; doch nähret ſie friſche Männer, und das Vaterland iſt einem jeden das Süßeſte! Wohlan nun, vernehmet von meiner unglückſeligen Heim¬ fahrt von der trojaniſchen Küſte! Von Ilium weg trug mich der Wind nach der Cikonenſtadt Imarus, die ich mit meinen Genoſſen eroberte. Die Männer vertilgten wir; die Frauen ſamt der andern Beute wurden ver¬ theilt. Nach meinem Rathe hätten wir uns nun eilig davongemacht. Aber meine unbeſonnenen Begleiter blie¬ ben ſchwelgend bei der Beute ſitzen, und die entflohenen Cikonen, durch ihre landeinwärts wohnenden Brüder ver¬ ſtärkt, überfielen uns beim Schmaus am Geſtade. Die Uebermacht ſiegte. Sechs Freunde von jedem unſrer Schiffe blieben auf dem Platze, wir andern entgingen dem Tode nur durch ſchleunige Flucht.
Alſo ſteuerten wir weiter weſtwärts, froh der To¬ desgefahr entronnen zu ſeyn, aber von Herzen traurig über den Tod unſerer Genoſſen. Da ſandte Jupiter uns einen Orkan aus Norden. Meer und Erde hüllten ſich
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Odyſſeus erzählt den Phäaken ſeine Irrfahrten.
Cikonen. Lotophagen. Cyklopen. Polyphen.
„Ich bin Odyſſeus, der Sohn des Laertes; die
Menſchen kennen mich und der Ruhm meiner Klugheit
iſt über die Erde verbreitet. Auf der ſonnigen Inſel
Ithaka wohne ich, in deren Mitte ſich das waldige Ge¬
birge Neriton erhebt; rings umher liegen viele kleinere
bewohnte Eilande, Same, Dulichium, Zazynthus.
Meine Heimath iſt zwar rauh; doch nähret ſie friſche
Männer, und das Vaterland iſt einem jeden das Süßeſte!
Wohlan nun, vernehmet von meiner unglückſeligen Heim¬
fahrt von der trojaniſchen Küſte! Von Ilium weg trug
mich der Wind nach der Cikonenſtadt Imarus, die ich
mit meinen Genoſſen eroberte. Die Männer vertilgten
wir; die Frauen ſamt der andern Beute wurden ver¬
theilt. Nach meinem Rathe hätten wir uns nun eilig
davongemacht. Aber meine unbeſonnenen Begleiter blie¬
ben ſchwelgend bei der Beute ſitzen, und die entflohenen
Cikonen, durch ihre landeinwärts wohnenden Brüder ver¬
ſtärkt, überfielen uns beim Schmaus am Geſtade. Die
Uebermacht ſiegte. Sechs Freunde von jedem unſrer
Schiffe blieben auf dem Platze, wir andern entgingen
dem Tode nur durch ſchleunige Flucht.
Alſo ſteuerten wir weiter weſtwärts, froh der To¬
desgefahr entronnen zu ſeyn, aber von Herzen traurig
über den Tod unſerer Genoſſen. Da ſandte Jupiter uns
einen Orkan aus Norden. Meer und Erde hüllten ſich
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/145>, abgerufen am 23.11.2024.
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