Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

gebot daher dem Sänger Stillschweigen und sprach im
Kreise der Phäaken: "Besser ists, die Harfe ruhet nun;
denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Lust
singt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle
sitzen und das Lied ertönt, hört unser schwermüthiger
Gast nicht auf, seinem Grame nachzuhängen, und wir
streben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem
fühlenden Manne ein Gast so lieb seyn, wie ein Bruder.
Nun denn, Fremdling, so sag' uns redlich, wer sind
deine Eltern, welches ist dein Vaterland? Einen Namen
führt doch jeder Mensch, sey er von edler oder von ge¬
ringer Abkunft! dein Land müssen wir ohnedem wissen
und deine Geburtsstadt, wenn dich meine Phäaken heim¬
bringen sollen. Weiter brauchen sie nichts; sie bedürfen
auch der Piloten nicht: haben sie nur den Namen des
Orts, so finden sie die Fahrt durch Nacht und Nebel!"

Auf diese freundliche Rede erwiederte der Held eben
so liebreich: "Glaube doch ja nicht, edler König, daß
euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr ist es eine
Wonne, einem solchen zuzuhören, wenn er seine götter¬
gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts
Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei festlicher
Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬
rend die Gäste in langen Reihen sitzen, vor jedem sein
Tisch voll Brods und Fleisches steht, und der Schenk
fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬
schet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben
Gastfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und
Gram versinken. Denn wo soll ich anfangen und womit
enden? -- Doch, höret vor allen Dingen mein Geschlecht
und mein Vaterland!"


gebot daher dem Sänger Stillſchweigen und ſprach im
Kreiſe der Phäaken: „Beſſer iſts, die Harfe ruhet nun;
denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Luſt
ſingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle
ſitzen und das Lied ertönt, hört unſer ſchwermüthiger
Gaſt nicht auf, ſeinem Grame nachzuhängen, und wir
ſtreben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem
fühlenden Manne ein Gaſt ſo lieb ſeyn, wie ein Bruder.
Nun denn, Fremdling, ſo ſag' uns redlich, wer ſind
deine Eltern, welches iſt dein Vaterland? Einen Namen
führt doch jeder Menſch, ſey er von edler oder von ge¬
ringer Abkunft! dein Land müſſen wir ohnedem wiſſen
und deine Geburtsſtadt, wenn dich meine Phäaken heim¬
bringen ſollen. Weiter brauchen ſie nichts; ſie bedürfen
auch der Piloten nicht: haben ſie nur den Namen des
Orts, ſo finden ſie die Fahrt durch Nacht und Nebel!“

Auf dieſe freundliche Rede erwiederte der Held eben
ſo liebreich: „Glaube doch ja nicht, edler König, daß
euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr iſt es eine
Wonne, einem ſolchen zuzuhören, wenn er ſeine götter¬
gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts
Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei feſtlicher
Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬
rend die Gäſte in langen Reihen ſitzen, vor jedem ſein
Tiſch voll Brods und Fleiſches ſteht, und der Schenk
fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬
ſchet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben
Gaſtfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und
Gram verſinken. Denn wo ſoll ich anfangen und womit
enden? — Doch, höret vor allen Dingen mein Geſchlecht
und mein Vaterland!“


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0144" n="122"/>
gebot daher dem Sänger Still&#x017F;chweigen und &#x017F;prach im<lb/>
Krei&#x017F;e der Phäaken: &#x201E;Be&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;ts, die Harfe ruhet nun;<lb/>
denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Lu&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle<lb/>
&#x017F;itzen und das Lied ertönt, hört un&#x017F;er &#x017F;chwermüthiger<lb/>
Ga&#x017F;t nicht auf, &#x017F;einem Grame nachzuhängen, und wir<lb/>
&#x017F;treben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem<lb/>
fühlenden Manne ein Ga&#x017F;t &#x017F;o lieb &#x017F;eyn, wie ein Bruder.<lb/>
Nun denn, Fremdling, &#x017F;o &#x017F;ag' uns redlich, wer &#x017F;ind<lb/>
deine Eltern, welches i&#x017F;t dein Vaterland? Einen Namen<lb/>
führt doch jeder Men&#x017F;ch, &#x017F;ey er von edler oder von ge¬<lb/>
ringer Abkunft! dein Land mü&#x017F;&#x017F;en wir ohnedem wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und deine Geburts&#x017F;tadt, wenn dich meine Phäaken heim¬<lb/>
bringen &#x017F;ollen. Weiter brauchen &#x017F;ie nichts; &#x017F;ie bedürfen<lb/>
auch der Piloten nicht: haben &#x017F;ie nur den Namen des<lb/>
Orts, &#x017F;o finden &#x017F;ie die Fahrt durch Nacht und Nebel!&#x201C;</p><lb/>
            <p>Auf die&#x017F;e freundliche Rede erwiederte der Held eben<lb/>
&#x017F;o liebreich: &#x201E;Glaube doch ja nicht, edler König, daß<lb/>
euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr i&#x017F;t es eine<lb/>
Wonne, einem &#x017F;olchen zuzuhören, wenn er &#x017F;eine götter¬<lb/>
gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts<lb/>
Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei fe&#x017F;tlicher<lb/>
Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬<lb/>
rend die Gä&#x017F;te in langen Reihen &#x017F;itzen, vor jedem &#x017F;ein<lb/>
Ti&#x017F;ch voll Brods und Flei&#x017F;ches &#x017F;teht, und der Schenk<lb/>
fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬<lb/>
&#x017F;chet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben<lb/>
Ga&#x017F;tfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und<lb/>
Gram ver&#x017F;inken. Denn wo &#x017F;oll ich anfangen und womit<lb/>
enden? &#x2014; Doch, höret vor allen Dingen mein Ge&#x017F;chlecht<lb/>
und mein Vaterland!&#x201C;</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0144] gebot daher dem Sänger Stillſchweigen und ſprach im Kreiſe der Phäaken: „Beſſer iſts, die Harfe ruhet nun; denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Luſt ſingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle ſitzen und das Lied ertönt, hört unſer ſchwermüthiger Gaſt nicht auf, ſeinem Grame nachzuhängen, und wir ſtreben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem fühlenden Manne ein Gaſt ſo lieb ſeyn, wie ein Bruder. Nun denn, Fremdling, ſo ſag' uns redlich, wer ſind deine Eltern, welches iſt dein Vaterland? Einen Namen führt doch jeder Menſch, ſey er von edler oder von ge¬ ringer Abkunft! dein Land müſſen wir ohnedem wiſſen und deine Geburtsſtadt, wenn dich meine Phäaken heim¬ bringen ſollen. Weiter brauchen ſie nichts; ſie bedürfen auch der Piloten nicht: haben ſie nur den Namen des Orts, ſo finden ſie die Fahrt durch Nacht und Nebel!“ Auf dieſe freundliche Rede erwiederte der Held eben ſo liebreich: „Glaube doch ja nicht, edler König, daß euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr iſt es eine Wonne, einem ſolchen zuzuhören, wenn er ſeine götter¬ gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei feſtlicher Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬ rend die Gäſte in langen Reihen ſitzen, vor jedem ſein Tiſch voll Brods und Fleiſches ſteht, und der Schenk fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬ ſchet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben Gaſtfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und Gram verſinken. Denn wo ſoll ich anfangen und womit enden? — Doch, höret vor allen Dingen mein Geſchlecht und mein Vaterland!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/144
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/144>, abgerufen am 23.11.2024.