gebot daher dem Sänger Stillschweigen und sprach im Kreise der Phäaken: "Besser ists, die Harfe ruhet nun; denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Lust singt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle sitzen und das Lied ertönt, hört unser schwermüthiger Gast nicht auf, seinem Grame nachzuhängen, und wir streben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem fühlenden Manne ein Gast so lieb seyn, wie ein Bruder. Nun denn, Fremdling, so sag' uns redlich, wer sind deine Eltern, welches ist dein Vaterland? Einen Namen führt doch jeder Mensch, sey er von edler oder von ge¬ ringer Abkunft! dein Land müssen wir ohnedem wissen und deine Geburtsstadt, wenn dich meine Phäaken heim¬ bringen sollen. Weiter brauchen sie nichts; sie bedürfen auch der Piloten nicht: haben sie nur den Namen des Orts, so finden sie die Fahrt durch Nacht und Nebel!"
Auf diese freundliche Rede erwiederte der Held eben so liebreich: "Glaube doch ja nicht, edler König, daß euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr ist es eine Wonne, einem solchen zuzuhören, wenn er seine götter¬ gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei festlicher Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬ rend die Gäste in langen Reihen sitzen, vor jedem sein Tisch voll Brods und Fleisches steht, und der Schenk fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬ schet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben Gastfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und Gram versinken. Denn wo soll ich anfangen und womit enden? -- Doch, höret vor allen Dingen mein Geschlecht und mein Vaterland!"
gebot daher dem Sänger Stillſchweigen und ſprach im Kreiſe der Phäaken: „Beſſer iſts, die Harfe ruhet nun; denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Luſt ſingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle ſitzen und das Lied ertönt, hört unſer ſchwermüthiger Gaſt nicht auf, ſeinem Grame nachzuhängen, und wir ſtreben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem fühlenden Manne ein Gaſt ſo lieb ſeyn, wie ein Bruder. Nun denn, Fremdling, ſo ſag' uns redlich, wer ſind deine Eltern, welches iſt dein Vaterland? Einen Namen führt doch jeder Menſch, ſey er von edler oder von ge¬ ringer Abkunft! dein Land müſſen wir ohnedem wiſſen und deine Geburtsſtadt, wenn dich meine Phäaken heim¬ bringen ſollen. Weiter brauchen ſie nichts; ſie bedürfen auch der Piloten nicht: haben ſie nur den Namen des Orts, ſo finden ſie die Fahrt durch Nacht und Nebel!“
Auf dieſe freundliche Rede erwiederte der Held eben ſo liebreich: „Glaube doch ja nicht, edler König, daß euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr iſt es eine Wonne, einem ſolchen zuzuhören, wenn er ſeine götter¬ gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei feſtlicher Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬ rend die Gäſte in langen Reihen ſitzen, vor jedem ſein Tiſch voll Brods und Fleiſches ſteht, und der Schenk fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬ ſchet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben Gaſtfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und Gram verſinken. Denn wo ſoll ich anfangen und womit enden? — Doch, höret vor allen Dingen mein Geſchlecht und mein Vaterland!“
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gebot daher dem Sänger Stillſchweigen und ſprach im
Kreiſe der Phäaken: „Beſſer iſts, die Harfe ruhet nun;
denn wahrlich, ihr Freunde, nicht Jedermann zur Luſt
ſingt der Sänger jene Mähre. Seit wir am Mahle
ſitzen und das Lied ertönt, hört unſer ſchwermüthiger
Gaſt nicht auf, ſeinem Grame nachzuhängen, und wir
ſtreben vergebens ihn zu erheitern. Und doch muß einem
fühlenden Manne ein Gaſt ſo lieb ſeyn, wie ein Bruder.
Nun denn, Fremdling, ſo ſag' uns redlich, wer ſind
deine Eltern, welches iſt dein Vaterland? Einen Namen
führt doch jeder Menſch, ſey er von edler oder von ge¬
ringer Abkunft! dein Land müſſen wir ohnedem wiſſen
und deine Geburtsſtadt, wenn dich meine Phäaken heim¬
bringen ſollen. Weiter brauchen ſie nichts; ſie bedürfen
auch der Piloten nicht: haben ſie nur den Namen des
Orts, ſo finden ſie die Fahrt durch Nacht und Nebel!“
Auf dieſe freundliche Rede erwiederte der Held eben
ſo liebreich: „Glaube doch ja nicht, edler König, daß
euer Sänger mich nicht ergötze! Vielmehr iſt es eine
Wonne, einem ſolchen zuzuhören, wenn er ſeine götter¬
gleiche Stimme vernehmen läßt, und ich weiß mir nichts
Angenehmeres, als wenn ein ganzes Volk bei feſtlicher
Freude horchend am Munde eines Sängers hängt, wäh¬
rend die Gäſte in langen Reihen ſitzen, vor jedem ſein
Tiſch voll Brods und Fleiſches ſteht, und der Schenk
fleißig mit dem Kruge bei den Bechern kreist! Ihr aber wün¬
ſchet meine Leiden von mir zu vernehmen, ihr lieben
Gaſtfreunde; da werde ich noch tiefer in Kummer und
Gram verſinken. Denn wo ſoll ich anfangen und womit
enden? — Doch, höret vor allen Dingen mein Geſchlecht
und mein Vaterland!“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/144>, abgerufen am 23.11.2024.
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