Odysseus: "Du edle Nausikaa, wenn mich Jupiter den Tag der Heimkunft erleben läßt, so werde ich dich, meine Retterin, täglich wie eine Gottheit anflehen!" Mit die¬ sen Worten betrat er den Saal wieder und setzte sich an der Seite des Königes nieder. Hier waren die Diener eben damit beschäftigt, das Fleisch zu zerlegen und den Wein aus den großen Mischkrügen in die Becher ein¬ zuschenken. Auch der blinde Sänger Demodokus wurde wieder eingeführt und nahm seinen alten Platz an der Mittelsäule des Saales ein. Da winkte Odysseus dem Herold, schnitt vom Rücken des vor ihm liegenden ge¬ bratenen Schweines das beste Stück ab, streckte es ihm auf einer Platte hin und sagte: "Herold, reich dem Sänger dieses Fleisch; obgleich ich selbst in der Ver¬ bannung bin, so möchte ich ihm doch gerne etwas Liebes erweisen. Stehen doch die Sänger bei dem ganzen Menschengeschlecht in Achtung, weil die Muse selbst sie den Gesang gelehrt hat und mit ihrer Huld über ihnen waltet." Dankbar empfing der blinde Sänger die Gabe.
Nach dem Mahle wandte sich Odysseus noch ein¬ mal an Demodokus: "Ich preise dich vor andern Sterb¬ lichen, lieber Sänger!" sprach er zu ihm, "daß dich Apollo oder die Muse so schöne Lieder gelehret hat! Wie lebendig und genau du das Schicksal der griechischen Helden zu schildern verstehst, als hättest du Alles mit angesehen und mit angehört! Fahre nun fort, und sing' uns auch noch die schöne Mähr vom hölzernen Rosse und was Odysseus dabei gethan hat!" Der Sänger ge¬ horchte freudig und Alles lauschte seinem Gesange. Als der Held so seine Thaten preisen hörte, mußte er wieder heimlich weinen, und nur Alcinous bemerkte es. Er
Odyſſeus: „Du edle Nauſikaa, wenn mich Jupiter den Tag der Heimkunft erleben läßt, ſo werde ich dich, meine Retterin, täglich wie eine Gottheit anflehen!“ Mit die¬ ſen Worten betrat er den Saal wieder und ſetzte ſich an der Seite des Königes nieder. Hier waren die Diener eben damit beſchäftigt, das Fleiſch zu zerlegen und den Wein aus den großen Miſchkrügen in die Becher ein¬ zuſchenken. Auch der blinde Sänger Demodokus wurde wieder eingeführt und nahm ſeinen alten Platz an der Mittelſäule des Saales ein. Da winkte Odyſſeus dem Herold, ſchnitt vom Rücken des vor ihm liegenden ge¬ bratenen Schweines das beſte Stück ab, ſtreckte es ihm auf einer Platte hin und ſagte: „Herold, reich dem Sänger dieſes Fleiſch; obgleich ich ſelbſt in der Ver¬ bannung bin, ſo möchte ich ihm doch gerne etwas Liebes erweiſen. Stehen doch die Sänger bei dem ganzen Menſchengeſchlecht in Achtung, weil die Muſe ſelbſt ſie den Geſang gelehrt hat und mit ihrer Huld über ihnen waltet.“ Dankbar empfing der blinde Sänger die Gabe.
Nach dem Mahle wandte ſich Odyſſeus noch ein¬ mal an Demodokus: „Ich preiſe dich vor andern Sterb¬ lichen, lieber Sänger!“ ſprach er zu ihm, „daß dich Apollo oder die Muſe ſo ſchöne Lieder gelehret hat! Wie lebendig und genau du das Schickſal der griechiſchen Helden zu ſchildern verſtehſt, als hätteſt du Alles mit angeſehen und mit angehört! Fahre nun fort, und ſing' uns auch noch die ſchöne Mähr vom hölzernen Roſſe und was Odyſſeus dabei gethan hat!“ Der Sänger ge¬ horchte freudig und Alles lauſchte ſeinem Geſange. Als der Held ſo ſeine Thaten preiſen hörte, mußte er wieder heimlich weinen, und nur Alcinous bemerkte es. Er
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Odyſſeus: „Du edle Nauſikaa, wenn mich Jupiter den
Tag der Heimkunft erleben läßt, ſo werde ich dich, meine
Retterin, täglich wie eine Gottheit anflehen!“ Mit die¬
ſen Worten betrat er den Saal wieder und ſetzte ſich an
der Seite des Königes nieder. Hier waren die Diener
eben damit beſchäftigt, das Fleiſch zu zerlegen und den
Wein aus den großen Miſchkrügen in die Becher ein¬
zuſchenken. Auch der blinde Sänger Demodokus wurde
wieder eingeführt und nahm ſeinen alten Platz an der
Mittelſäule des Saales ein. Da winkte Odyſſeus dem
Herold, ſchnitt vom Rücken des vor ihm liegenden ge¬
bratenen Schweines das beſte Stück ab, ſtreckte es ihm
auf einer Platte hin und ſagte: „Herold, reich dem
Sänger dieſes Fleiſch; obgleich ich ſelbſt in der Ver¬
bannung bin, ſo möchte ich ihm doch gerne etwas Liebes
erweiſen. Stehen doch die Sänger bei dem ganzen
Menſchengeſchlecht in Achtung, weil die Muſe ſelbſt ſie
den Geſang gelehrt hat und mit ihrer Huld über ihnen
waltet.“ Dankbar empfing der blinde Sänger die Gabe.
Nach dem Mahle wandte ſich Odyſſeus noch ein¬
mal an Demodokus: „Ich preiſe dich vor andern Sterb¬
lichen, lieber Sänger!“ ſprach er zu ihm, „daß dich
Apollo oder die Muſe ſo ſchöne Lieder gelehret hat!
Wie lebendig und genau du das Schickſal der griechiſchen
Helden zu ſchildern verſtehſt, als hätteſt du Alles mit
angeſehen und mit angehört! Fahre nun fort, und ſing'
uns auch noch die ſchöne Mähr vom hölzernen Roſſe
und was Odyſſeus dabei gethan hat!“ Der Sänger ge¬
horchte freudig und Alles lauſchte ſeinem Geſange. Als
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heimlich weinen, und nur Alcinous bemerkte es. Er
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/143>, abgerufen am 23.11.2024.
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