So sprach Odysseus und erhub sich vom Sitz, ohne den Mantel abzulegen. Er ergriff eine Scheibe, größer, dicker und schwerer, als die, nach welchen die Phäaken¬ jünglinge zu langen pflegten, und warf sie kräftig, daß der Stein laut hinsauste; unter seinem Schwunge bückten sich die umherstehenden Phäaken, und er flog weit über das Ziel hinaus. Schnell machte Athene, in einen Phä¬ aken verstellt, das Zeichen, wo der Stein gefallen war, und sprach: "Dein Zeichen soll auch ein Blinder erken¬ nen, Mann, so weit liegt es von allen andern ab! In die¬ sem Kampfe bist du sicher, nie besiegt zu werden!" Odysseus freute sich, daß er einen so guten Freund im Volke ge¬ funden habe, und sprach mit leichterem Herzen: "Nun, ihr Jünglinge, schleudert mir dorthin nach, wie ihr es vermöget! Und ihr, die ihr mich so schwer beleidigt habt, kommt her und versuchet euch mit mir in welchem Kampfe ihr wollet; ich werde keinem ausweichen! Mit jedem will ich kämpfen, nur nicht mit Laodamas, denn wer stritte auch gerne mit dem, der ihn bewirthet? Besonders gut verstehe ichs, den Bogen zu spannen, und wenn viele Genossen mit mir in die Wette schößen, ich wäre doch der erste, der meinen Mann mit dem Pfeil träfe. Nur Einen kenne ich, den Griechen Philoktetes; der hat es mir oft zuvorgethan vor Troja, so oft wir uns dort im Schiffe übten! Auch mit dem Wurfspieße treffe ich nicht weniger sicher und schieße so weit, wie ein Anderer mit dem Pfeile. Nur im Wettlaufe, da möchte vielleicht ein Anderer es mir zuvorthun, selbst unter euch; denn das stürmische Meer hat mir viel Kraft genommen, zumal da ich Tage lang ohne Nahrung auf meinem Fahrzeuge saß."
So ſprach Odyſſeus und erhub ſich vom Sitz, ohne den Mantel abzulegen. Er ergriff eine Scheibe, größer, dicker und ſchwerer, als die, nach welchen die Phäaken¬ jünglinge zu langen pflegten, und warf ſie kräftig, daß der Stein laut hinſauste; unter ſeinem Schwunge bückten ſich die umherſtehenden Phäaken, und er flog weit über das Ziel hinaus. Schnell machte Athene, in einen Phä¬ aken verſtellt, das Zeichen, wo der Stein gefallen war, und ſprach: „Dein Zeichen ſoll auch ein Blinder erken¬ nen, Mann, ſo weit liegt es von allen andern ab! In die¬ ſem Kampfe biſt du ſicher, nie beſiegt zu werden!“ Odyſſeus freute ſich, daß er einen ſo guten Freund im Volke ge¬ funden habe, und ſprach mit leichterem Herzen: „Nun, ihr Jünglinge, ſchleudert mir dorthin nach, wie ihr es vermöget! Und ihr, die ihr mich ſo ſchwer beleidigt habt, kommt her und verſuchet euch mit mir in welchem Kampfe ihr wollet; ich werde keinem ausweichen! Mit jedem will ich kämpfen, nur nicht mit Laodamas, denn wer ſtritte auch gerne mit dem, der ihn bewirthet? Beſonders gut verſtehe ichs, den Bogen zu ſpannen, und wenn viele Genoſſen mit mir in die Wette ſchößen, ich wäre doch der erſte, der meinen Mann mit dem Pfeil träfe. Nur Einen kenne ich, den Griechen Philoktetes; der hat es mir oft zuvorgethan vor Troja, ſo oft wir uns dort im Schiffe übten! Auch mit dem Wurfſpieße treffe ich nicht weniger ſicher und ſchieße ſo weit, wie ein Anderer mit dem Pfeile. Nur im Wettlaufe, da möchte vielleicht ein Anderer es mir zuvorthun, ſelbſt unter euch; denn das ſtürmiſche Meer hat mir viel Kraft genommen, zumal da ich Tage lang ohne Nahrung auf meinem Fahrzeuge ſaß.“
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So ſprach Odyſſeus und erhub ſich vom Sitz, ohne
den Mantel abzulegen. Er ergriff eine Scheibe, größer,
dicker und ſchwerer, als die, nach welchen die Phäaken¬
jünglinge zu langen pflegten, und warf ſie kräftig, daß
der Stein laut hinſauste; unter ſeinem Schwunge bückten
ſich die umherſtehenden Phäaken, und er flog weit über
das Ziel hinaus. Schnell machte Athene, in einen Phä¬
aken verſtellt, das Zeichen, wo der Stein gefallen war,
und ſprach: „Dein Zeichen ſoll auch ein Blinder erken¬
nen, Mann, ſo weit liegt es von allen andern ab! In die¬
ſem Kampfe biſt du ſicher, nie beſiegt zu werden!“ Odyſſeus
freute ſich, daß er einen ſo guten Freund im Volke ge¬
funden habe, und ſprach mit leichterem Herzen: „Nun,
ihr Jünglinge, ſchleudert mir dorthin nach, wie ihr es
vermöget! Und ihr, die ihr mich ſo ſchwer beleidigt
habt, kommt her und verſuchet euch mit mir in welchem
Kampfe ihr wollet; ich werde keinem ausweichen! Mit
jedem will ich kämpfen, nur nicht mit Laodamas, denn
wer ſtritte auch gerne mit dem, der ihn bewirthet?
Beſonders gut verſtehe ichs, den Bogen zu ſpannen, und
wenn viele Genoſſen mit mir in die Wette ſchößen, ich
wäre doch der erſte, der meinen Mann mit dem Pfeil
träfe. Nur Einen kenne ich, den Griechen Philoktetes;
der hat es mir oft zuvorgethan vor Troja, ſo oft wir
uns dort im Schiffe übten! Auch mit dem Wurfſpieße
treffe ich nicht weniger ſicher und ſchieße ſo weit, wie
ein Anderer mit dem Pfeile. Nur im Wettlaufe, da
möchte vielleicht ein Anderer es mir zuvorthun, ſelbſt
unter euch; denn das ſtürmiſche Meer hat mir viel Kraft
genommen, zumal da ich Tage lang ohne Nahrung auf
meinem Fahrzeuge ſaß.“
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/139>, abgerufen am 24.11.2024.
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