Königes Alcinous zeigen? Ich bin ein verirrter Fremd¬ ling, komme aus fernen Landen und kenne hier Nie¬ mand!" -- "Recht gerne, guter Vater," sagte die Göttin in Mädchengestalt, "mein ehrlicher Vater wohnt ganz nahe dabei! Aber geh nur ganz stille mit mir: die Leute sind hier den Fremden nicht sonderlich gewogen; das kecke Leben zur See macht sie trotzig!" Unter die¬ sen Worten ging Athene schnell voran, und Odysseus folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemäch¬ lich konnte er den Hafen, die Schiffe, die gethürmten Mauern der Stadt anstaunen; endlich sprach Minerva: "Dieß ist, fremder Vater, das Haus des Alcinous, wandle nur getrost hinein; dem muthigen Manne ge¬ lingt Alles! Doch eins laß mich dir sagen: suche vor allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete, und ist die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige Kö¬ nig nämlich, Nausithous, ein Sohn Poseidons und der Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrschers Eury¬ medon, hinterließ zwei Söhne, unsern König, Alcinous, und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dieß ist unsere Königin Arete. Alcinous ehrt sie, wie nur irgend ein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenso verehrt sie auch alles Volk, denn sie ist voll Verstandes und Geistes, und weiß selbst Männerzwiste mit ihrer Weisheit zu entscheiden. Wenn du sie gewinnen kannst, so sey getrost."
So sprach die verstellte Göttin und enteilte. Odysseus stand stille in Betrachtung des herrlichen Palastes ver¬ sunken. Das hochragende Haus strahlte wie die Sonne. Tief hinein von der Schwelle erstreckten sich nach beiden
Königes Alcinous zeigen? Ich bin ein verirrter Fremd¬ ling, komme aus fernen Landen und kenne hier Nie¬ mand!“ — „Recht gerne, guter Vater,“ ſagte die Göttin in Mädchengeſtalt, „mein ehrlicher Vater wohnt ganz nahe dabei! Aber geh nur ganz ſtille mit mir: die Leute ſind hier den Fremden nicht ſonderlich gewogen; das kecke Leben zur See macht ſie trotzig!“ Unter die¬ ſen Worten ging Athene ſchnell voran, und Odyſſeus folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemäch¬ lich konnte er den Hafen, die Schiffe, die gethürmten Mauern der Stadt anſtaunen; endlich ſprach Minerva: „Dieß iſt, fremder Vater, das Haus des Alcinous, wandle nur getroſt hinein; dem muthigen Manne ge¬ lingt Alles! Doch eins laß mich dir ſagen: ſuche vor allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete, und iſt die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige Kö¬ nig nämlich, Nauſithous, ein Sohn Poſeidons und der Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrſchers Eury¬ medon, hinterließ zwei Söhne, unſern König, Alcinous, und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dieß iſt unſere Königin Arete. Alcinous ehrt ſie, wie nur irgend ein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenſo verehrt ſie auch alles Volk, denn ſie iſt voll Verſtandes und Geiſtes, und weiß ſelbſt Männerzwiſte mit ihrer Weisheit zu entſcheiden. Wenn du ſie gewinnen kannſt, ſo ſey getroſt.“
So ſprach die verſtellte Göttin und enteilte. Odyſſeus ſtand ſtille in Betrachtung des herrlichen Palaſtes ver¬ ſunken. Das hochragende Haus ſtrahlte wie die Sonne. Tief hinein von der Schwelle erſtreckten ſich nach beiden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0130"n="108"/>
Königes Alcinous zeigen? Ich bin ein verirrter Fremd¬<lb/>
ling, komme aus fernen Landen und kenne hier Nie¬<lb/>
mand!“—„Recht gerne, guter Vater,“ſagte die<lb/>
Göttin in Mädchengeſtalt, „mein ehrlicher Vater wohnt<lb/>
ganz nahe dabei! Aber geh nur ganz ſtille mit mir:<lb/>
die Leute ſind hier den Fremden nicht ſonderlich gewogen;<lb/>
das kecke Leben zur See macht ſie trotzig!“ Unter die¬<lb/>ſen Worten ging Athene ſchnell voran, und Odyſſeus<lb/>
folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemäch¬<lb/>
lich konnte er den Hafen, die Schiffe, die gethürmten<lb/>
Mauern der Stadt anſtaunen; endlich ſprach Minerva:<lb/>„Dieß iſt, fremder Vater, das Haus des Alcinous,<lb/>
wandle nur getroſt hinein; dem muthigen Manne ge¬<lb/>
lingt Alles! Doch eins laß mich dir ſagen: ſuche vor<lb/>
allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete, und<lb/>
iſt die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige Kö¬<lb/>
nig nämlich, Nauſithous, ein Sohn Poſeidons und der<lb/>
Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrſchers Eury¬<lb/>
medon, hinterließ zwei Söhne, unſern König, Alcinous,<lb/>
und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht<lb/>
lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dieß iſt<lb/>
unſere Königin Arete. Alcinous ehrt ſie, wie nur irgend<lb/>
ein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenſo<lb/>
verehrt ſie auch alles Volk, denn ſie iſt voll Verſtandes<lb/>
und Geiſtes, und weiß ſelbſt Männerzwiſte mit ihrer<lb/>
Weisheit zu entſcheiden. Wenn du ſie gewinnen kannſt,<lb/>ſo ſey getroſt.“</p><lb/><p>So ſprach die verſtellte Göttin und enteilte. Odyſſeus<lb/>ſtand ſtille in Betrachtung des herrlichen Palaſtes ver¬<lb/>ſunken. Das hochragende Haus ſtrahlte wie die Sonne.<lb/>
Tief hinein von der Schwelle erſtreckten ſich nach beiden<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[108/0130]
Königes Alcinous zeigen? Ich bin ein verirrter Fremd¬
ling, komme aus fernen Landen und kenne hier Nie¬
mand!“ — „Recht gerne, guter Vater,“ ſagte die
Göttin in Mädchengeſtalt, „mein ehrlicher Vater wohnt
ganz nahe dabei! Aber geh nur ganz ſtille mit mir:
die Leute ſind hier den Fremden nicht ſonderlich gewogen;
das kecke Leben zur See macht ſie trotzig!“ Unter die¬
ſen Worten ging Athene ſchnell voran, und Odyſſeus
folgte, aber kein Phäake wurde ihn gewahr. Gemäch¬
lich konnte er den Hafen, die Schiffe, die gethürmten
Mauern der Stadt anſtaunen; endlich ſprach Minerva:
„Dieß iſt, fremder Vater, das Haus des Alcinous,
wandle nur getroſt hinein; dem muthigen Manne ge¬
lingt Alles! Doch eins laß mich dir ſagen: ſuche vor
allen Dingen die Königin auf. Sie heißt Arete, und
iſt die Nichte ihres eigenen Gemahls. Der vorige Kö¬
nig nämlich, Nauſithous, ein Sohn Poſeidons und der
Periböa, der Tochter des Gigantenbeherrſchers Eury¬
medon, hinterließ zwei Söhne, unſern König, Alcinous,
und einen andern, Rhexenor. Der letztere lebte nicht
lange und hinterließ eine einzige Tochter; und dieß iſt
unſere Königin Arete. Alcinous ehrt ſie, wie nur irgend
ein Weib auf der Erde geehrt werden kann, und ebenſo
verehrt ſie auch alles Volk, denn ſie iſt voll Verſtandes
und Geiſtes, und weiß ſelbſt Männerzwiſte mit ihrer
Weisheit zu entſcheiden. Wenn du ſie gewinnen kannſt,
ſo ſey getroſt.“
So ſprach die verſtellte Göttin und enteilte. Odyſſeus
ſtand ſtille in Betrachtung des herrlichen Palaſtes ver¬
ſunken. Das hochragende Haus ſtrahlte wie die Sonne.
Tief hinein von der Schwelle erſtreckten ſich nach beiden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/130>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.