im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea, und es erbarmte sie des armen Dulders. Wie ein Wasserhuhn flog sie aus dem Strudel empor, setzte sich auf das Gebälk und sprach zu ihm: "Laß dir rathen, Odysseus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß dem Sturm; schnell, umgürte dich hier mit meinem Schleier unter der Brust, und dann verachte schwim¬ mend alle Schrecken des Meers!" Odysseus nahm den Schleier; die Göttin verschwand, und, obgleich er der Erscheinung mißtraute, so gehorchte er dem Rathe doch. Während Neptun ihm die wildeste Woge sandte, daß das Bruchstück des Flosses ganz auseinanderging, setzte er sich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das lange beschwerende Gewand, das Kalypso ihm geschenkt hatte, aus, und sprang mit dem Schleier umgürtet in die Fluth.
Poseidon schüttelte ernsthaft das Haupt, als er den entschlossenen Mann den Sprung wagen sah und sprach: "So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬ ringt! Gewiß, du sollst das Elend noch satt kriegen!" Mit diesen Worten verließ der Gott die See und zog sich nach seinem Palaste zurück. Odysseus wogte nun noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung an Klippen donnerte, und eine hochschwellende Woge trug ihn, ehe er einen Entschluß fassen konnte, von selbst dem Gestade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine Klippe; aber, siehe da eine Woge kam und schleu¬ derte ihn wieder ins Meer zurück. Er suchte sein Heil nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬ mes, seichtes Ufer und eine sichere Bucht, wo ein kleiner
7 *
im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea, und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich auf das Gebälk und ſprach zu ihm: „Laß dir rathen, Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬ mend alle Schrecken des Meers!“ Odyſſeus nahm den Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch. Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in die Fluth.
Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach: „So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬ ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen!“ Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬ derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬ mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner
7 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0121"n="99"/>
im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea,<lb/>
und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein<lb/>
Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich<lb/>
auf das Gebälk und ſprach zu ihm: „Laß dir rathen,<lb/>
Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß<lb/>
dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem<lb/>
Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬<lb/>
mend alle Schrecken des Meers!“ Odyſſeus nahm den<lb/>
Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der<lb/>
Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch.<lb/>
Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das<lb/>
Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er<lb/>ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das<lb/>
lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt<lb/>
hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in<lb/>
die Fluth.</p><lb/><p>Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den<lb/>
entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach:<lb/>„So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬<lb/>
ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen!“<lb/>
Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog<lb/>ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun<lb/>
noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da<lb/>
erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung<lb/>
an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug<lb/>
ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem<lb/>
Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine<lb/>
Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬<lb/>
derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil<lb/>
nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬<lb/>
mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner<lb/><fwtype="sig"place="bottom">7 *<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[99/0121]
im Winde, da erblickte ihn die Meeresgöttin Leukothea,
und es erbarmte ſie des armen Dulders. Wie ein
Waſſerhuhn flog ſie aus dem Strudel empor, ſetzte ſich
auf das Gebälk und ſprach zu ihm: „Laß dir rathen,
Odyſſeus! Zieh dein Gewand aus, überlaß den Floß
dem Sturm; ſchnell, umgürte dich hier mit meinem
Schleier unter der Bruſt, und dann verachte ſchwim¬
mend alle Schrecken des Meers!“ Odyſſeus nahm den
Schleier; die Göttin verſchwand, und, obgleich er der
Erſcheinung mißtraute, ſo gehorchte er dem Rathe doch.
Während Neptun ihm die wildeſte Woge ſandte, daß das
Bruchſtück des Floſſes ganz auseinanderging, ſetzte er
ſich, wie ein Reiter, auf einen einzelnen Balken, zog das
lange beſchwerende Gewand, das Kalypſo ihm geſchenkt
hatte, aus, und ſprang mit dem Schleier umgürtet in
die Fluth.
Poſeidon ſchüttelte ernſthaft das Haupt, als er den
entſchloſſenen Mann den Sprung wagen ſah und ſprach:
„So irre denn durch die Meeresfluth, von Jammer um¬
ringt! Gewiß, du ſollſt das Elend noch ſatt kriegen!“
Mit dieſen Worten verließ der Gott die See und zog
ſich nach ſeinem Palaſte zurück. Odyſſeus wogte nun
noch zwei Tage und Nächte auf der See umher; da
erblickte er endlich ein waldiges Ufer, wo die Brandung
an Klippen donnerte, und eine hochſchwellende Woge trug
ihn, ehe er einen Entſchluß faſſen konnte, von ſelbſt dem
Geſtade entgegen. Mit beiden Händen umfaßte er eine
Klippe; aber, ſiehe da eine Woge kam und ſchleu¬
derte ihn wieder ins Meer zurück. Er ſuchte ſein Heil
nun wieder im Schwimmen und fand endlich ein beque¬
mes, ſeichtes Ufer und eine ſichere Bucht, wo ein kleiner
7 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/121>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.