meinem guten Rathe nicht fehlen, daß er ganz unversehrt das Ufer seines Heimathlandes erreiche."
Hermes (Merkur) war mit dieser Antwort wohl zufrieden und enteilte wieder zum Olymp. Kalypso ging selbst an den Meeresstrand, wo der trauernde Odysseus saß, trat nahe zu ihm hinan und sprach: "Armer Freund, dein Leben darf dir nicht fürder in Schwermuth dahin¬ schwinden. Ich entlasse dich. Auf, mächtige Balken gehauen, mit Erz zum Floß gefügt, und mit hohen Brettern umsäumt! Allerlei Labsal, Wasser, Wein und Speise lege ich dir selbst hinein, versehe dich mit Ge¬ wanden, sende günstigen Wind vom Lande; mögen dich die Götter glücklich in die Heimath geleiten!"
Mißtrauisch blickte Odysseus die Göttin an und sprach: "Gewiß, du sinnest auf etwas ganz anderes, schöne Nymphe! Nimmermehr besteige ich einen Floß, wenn du mir nicht den großen Göttereid schwörest, daß du mir nicht irgend ein Uebel zum Schaden ausgedacht hast!" Aber Kalypso lächelte, und, sanft mit der Hand ihn streichelnd, antwortete sie: "Aengstige dich nicht mit solchen eiteln Gedanken! Die Erde, der Himmel und der Styx seyen meine Zeugen, daß ich nichts Böses mit dir vorhabe! Ich rathe dir das, was ich mir selbst in der Noth ausdenken würde!" Mit diesen Worten ging sie voran, Odysseus folgte, und in der Grotte nahm sie noch den zärtlichsten Abschied von ihm.
Bald war der Floß gezimmert, und am fünften Tage schwoll das Segel des Odysseus im Winde. Er selbst saß am Ruder und steuerte kunsterfahren durch die Fluth. Kein Schlaf kam ihm über die Augen, beständig blickte er nach den Himmelsgestirnen und richtete sich nach
Schwab, das klass. Alterthum III. 7
meinem guten Rathe nicht fehlen, daß er ganz unverſehrt das Ufer ſeines Heimathlandes erreiche.“
Hermes (Merkur) war mit dieſer Antwort wohl zufrieden und enteilte wieder zum Olymp. Kalypſo ging ſelbſt an den Meeresſtrand, wo der trauernde Odyſſeus ſaß, trat nahe zu ihm hinan und ſprach: „Armer Freund, dein Leben darf dir nicht fürder in Schwermuth dahin¬ ſchwinden. Ich entlaſſe dich. Auf, mächtige Balken gehauen, mit Erz zum Floß gefügt, und mit hohen Brettern umſäumt! Allerlei Labſal, Waſſer, Wein und Speiſe lege ich dir ſelbſt hinein, verſehe dich mit Ge¬ wanden, ſende günſtigen Wind vom Lande; mögen dich die Götter glücklich in die Heimath geleiten!“
Mißtrauiſch blickte Odyſſeus die Göttin an und ſprach: „Gewiß, du ſinneſt auf etwas ganz anderes, ſchöne Nymphe! Nimmermehr beſteige ich einen Floß, wenn du mir nicht den großen Göttereid ſchwöreſt, daß du mir nicht irgend ein Uebel zum Schaden ausgedacht haſt!“ Aber Kalypſo lächelte, und, ſanft mit der Hand ihn ſtreichelnd, antwortete ſie: „Aengſtige dich nicht mit ſolchen eiteln Gedanken! Die Erde, der Himmel und der Styx ſeyen meine Zeugen, daß ich nichts Böſes mit dir vorhabe! Ich rathe dir das, was ich mir ſelbſt in der Noth ausdenken würde!“ Mit dieſen Worten ging ſie voran, Odyſſeus folgte, und in der Grotte nahm ſie noch den zärtlichſten Abſchied von ihm.
Bald war der Floß gezimmert, und am fünften Tage ſchwoll das Segel des Odyſſeus im Winde. Er ſelbſt ſaß am Ruder und ſteuerte kunſterfahren durch die Fluth. Kein Schlaf kam ihm über die Augen, beſtändig blickte er nach den Himmelsgeſtirnen und richtete ſich nach
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 7
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0119"n="97"/>
meinem guten Rathe nicht fehlen, daß er ganz unverſehrt<lb/>
das Ufer ſeines Heimathlandes erreiche.“</p><lb/><p>Hermes (Merkur) war mit dieſer Antwort wohl<lb/>
zufrieden und enteilte wieder zum Olymp. Kalypſo ging<lb/>ſelbſt an den Meeresſtrand, wo der trauernde Odyſſeus<lb/>ſaß, trat nahe zu ihm hinan und ſprach: „Armer Freund,<lb/>
dein Leben darf dir nicht fürder in Schwermuth dahin¬<lb/>ſchwinden. Ich entlaſſe dich. Auf, mächtige Balken<lb/>
gehauen, mit Erz zum Floß gefügt, und mit hohen<lb/>
Brettern umſäumt! Allerlei Labſal, Waſſer, Wein und<lb/>
Speiſe lege ich dir ſelbſt hinein, verſehe dich mit Ge¬<lb/>
wanden, ſende günſtigen Wind vom Lande; mögen dich<lb/>
die Götter glücklich in die Heimath geleiten!“</p><lb/><p>Mißtrauiſch blickte Odyſſeus die Göttin an und<lb/>ſprach: „Gewiß, du ſinneſt auf etwas ganz anderes,<lb/>ſchöne Nymphe! Nimmermehr beſteige ich einen Floß,<lb/>
wenn du mir nicht den großen Göttereid ſchwöreſt, daß<lb/>
du mir nicht irgend ein Uebel zum Schaden ausgedacht<lb/>
haſt!“ Aber Kalypſo lächelte, und, ſanft mit der Hand<lb/>
ihn ſtreichelnd, antwortete ſie: „Aengſtige dich nicht mit<lb/>ſolchen eiteln Gedanken! Die Erde, der Himmel und<lb/>
der Styx ſeyen meine Zeugen, daß ich nichts Böſes mit<lb/>
dir vorhabe! Ich rathe dir das, was ich mir ſelbſt<lb/>
in der Noth ausdenken würde!“ Mit dieſen Worten<lb/>
ging ſie voran, Odyſſeus folgte, und in der Grotte nahm<lb/>ſie noch den zärtlichſten Abſchied von ihm.</p><lb/><p>Bald war der Floß gezimmert, und am fünften<lb/>
Tage ſchwoll das Segel des Odyſſeus im Winde. Er<lb/>ſelbſt ſaß am Ruder und ſteuerte kunſterfahren durch die<lb/>
Fluth. Kein Schlaf kam ihm über die Augen, beſtändig<lb/>
blickte er nach den Himmelsgeſtirnen und richtete ſich nach<lb/><fwtype="sig"place="bottom"><hirendition="#g">Schwab</hi>, das klaſſ. Alterthum <hirendition="#aq">III</hi>. 7<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[97/0119]
meinem guten Rathe nicht fehlen, daß er ganz unverſehrt
das Ufer ſeines Heimathlandes erreiche.“
Hermes (Merkur) war mit dieſer Antwort wohl
zufrieden und enteilte wieder zum Olymp. Kalypſo ging
ſelbſt an den Meeresſtrand, wo der trauernde Odyſſeus
ſaß, trat nahe zu ihm hinan und ſprach: „Armer Freund,
dein Leben darf dir nicht fürder in Schwermuth dahin¬
ſchwinden. Ich entlaſſe dich. Auf, mächtige Balken
gehauen, mit Erz zum Floß gefügt, und mit hohen
Brettern umſäumt! Allerlei Labſal, Waſſer, Wein und
Speiſe lege ich dir ſelbſt hinein, verſehe dich mit Ge¬
wanden, ſende günſtigen Wind vom Lande; mögen dich
die Götter glücklich in die Heimath geleiten!“
Mißtrauiſch blickte Odyſſeus die Göttin an und
ſprach: „Gewiß, du ſinneſt auf etwas ganz anderes,
ſchöne Nymphe! Nimmermehr beſteige ich einen Floß,
wenn du mir nicht den großen Göttereid ſchwöreſt, daß
du mir nicht irgend ein Uebel zum Schaden ausgedacht
haſt!“ Aber Kalypſo lächelte, und, ſanft mit der Hand
ihn ſtreichelnd, antwortete ſie: „Aengſtige dich nicht mit
ſolchen eiteln Gedanken! Die Erde, der Himmel und
der Styx ſeyen meine Zeugen, daß ich nichts Böſes mit
dir vorhabe! Ich rathe dir das, was ich mir ſelbſt
in der Noth ausdenken würde!“ Mit dieſen Worten
ging ſie voran, Odyſſeus folgte, und in der Grotte nahm
ſie noch den zärtlichſten Abſchied von ihm.
Bald war der Floß gezimmert, und am fünften
Tage ſchwoll das Segel des Odyſſeus im Winde. Er
ſelbſt ſaß am Ruder und ſteuerte kunſterfahren durch die
Fluth. Kein Schlaf kam ihm über die Augen, beſtändig
blickte er nach den Himmelsgeſtirnen und richtete ſich nach
Schwab, das klaſſ. Alterthum III. 7
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 3. Stuttgart, 1840, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen03_1840/119>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.