Fremde in den Schutz des Königshauses aufgenommen und den Griechen nicht ausgeliefert werden sollte. Ganz anders hatte freilich das Volk der Stadt, dem vor einem feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die Ankunft des Königssohnes und seinen schönen Raub auf¬ genommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen verfolgt und hier und da war selbst ein Stein nach ihm geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des Vaters Pallast geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten König und seinem Willen die Trojaner ab, sich der Auf¬ nahme der neuen Bürgerin ernstlich zu widersetzen.
Als nun im Rathe des Priamus der Beschluß gefaßt war, die Fürstin nicht zu verstoßen, sandte der König seine eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um sich zu überzeugen, daß sie freiwillig mit Paris nach Troja ge¬ kommen sey. Da erklärte Helena, "daß sie durch ihre eigene Abstammung den Trojanern ebensosehr angehöre als den Griechen: denn Danaus und Agenor seyen eben¬ sowohl ihre eigenen Stammväter als die Stammhalter des trojanischen Königshauses. Unfreiwillig geraubt, sey sie jetzt doch durch langen Besitz und innige Liebe an ihren neuen Gemahl gefesselt und freiwillig die seinige. Nach dem, was geschehen, könne sie von ihrem vorigen Gatten und ihrem Volke keine Verzeihung erwarten; nur Schande und Tod stände ihr bevor, wenn sie ausgeliefert würde."
So sprach sie mit einem Strom von Thränen und warf sich der Königin Hekuba zu Füßen, welche die Schutz¬ flehende liebreich aufrichtete, und ihr den Willen des Kö¬ niges und seiner Söhne verkündete, sie gegen jeden Angriff zu schirmen.
Fremde in den Schutz des Königshauſes aufgenommen und den Griechen nicht ausgeliefert werden ſollte. Ganz anders hatte freilich das Volk der Stadt, dem vor einem feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die Ankunft des Königsſohnes und ſeinen ſchönen Raub auf¬ genommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen verfolgt und hier und da war ſelbſt ein Stein nach ihm geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des Vaters Pallaſt geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten König und ſeinem Willen die Trojaner ab, ſich der Auf¬ nahme der neuen Bürgerin ernſtlich zu widerſetzen.
Als nun im Rathe des Priamus der Beſchluß gefaßt war, die Fürſtin nicht zu verſtoßen, ſandte der König ſeine eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um ſich zu überzeugen, daß ſie freiwillig mit Paris nach Troja ge¬ kommen ſey. Da erklärte Helena, „daß ſie durch ihre eigene Abſtammung den Trojanern ebenſoſehr angehöre als den Griechen: denn Danaus und Agenor ſeyen eben¬ ſowohl ihre eigenen Stammväter als die Stammhalter des trojaniſchen Königshauſes. Unfreiwillig geraubt, ſey ſie jetzt doch durch langen Beſitz und innige Liebe an ihren neuen Gemahl gefeſſelt und freiwillig die ſeinige. Nach dem, was geſchehen, könne ſie von ihrem vorigen Gatten und ihrem Volke keine Verzeihung erwarten; nur Schande und Tod ſtände ihr bevor, wenn ſie ausgeliefert würde.“
So ſprach ſie mit einem Strom von Thränen und warf ſich der Königin Hekuba zu Füßen, welche die Schutz¬ flehende liebreich aufrichtete, und ihr den Willen des Kö¬ niges und ſeiner Söhne verkündete, ſie gegen jeden Angriff zu ſchirmen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0076"n="54"/>
Fremde in den Schutz des Königshauſes aufgenommen<lb/>
und den Griechen nicht ausgeliefert werden ſollte. Ganz<lb/>
anders hatte freilich das Volk der Stadt, dem vor einem<lb/>
feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die<lb/>
Ankunft des Königsſohnes und ſeinen ſchönen Raub auf¬<lb/>
genommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen<lb/>
verfolgt und hier und da war ſelbſt ein Stein nach ihm<lb/>
geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des Vaters<lb/>
Pallaſt geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten<lb/>
König und ſeinem Willen die Trojaner ab, ſich der Auf¬<lb/>
nahme der neuen Bürgerin ernſtlich zu widerſetzen.</p><lb/><p>Als nun im Rathe des Priamus der Beſchluß gefaßt<lb/>
war, die Fürſtin nicht zu verſtoßen, ſandte der König ſeine<lb/>
eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um ſich zu<lb/>
überzeugen, daß ſie freiwillig mit Paris nach Troja ge¬<lb/>
kommen ſey. Da erklärte Helena, „daß ſie durch ihre<lb/>
eigene Abſtammung den Trojanern ebenſoſehr angehöre<lb/>
als den Griechen: denn Danaus und Agenor ſeyen eben¬<lb/>ſowohl ihre eigenen Stammväter als die Stammhalter<lb/>
des trojaniſchen Königshauſes. Unfreiwillig geraubt, ſey<lb/>ſie jetzt doch durch langen Beſitz und innige Liebe an ihren<lb/>
neuen Gemahl gefeſſelt und freiwillig die ſeinige. Nach<lb/>
dem, was geſchehen, könne ſie von ihrem vorigen Gatten<lb/>
und ihrem Volke keine Verzeihung erwarten; nur Schande<lb/>
und Tod ſtände ihr bevor, wenn ſie ausgeliefert würde.“</p><lb/><p>So ſprach ſie mit einem Strom von Thränen und<lb/>
warf ſich der Königin Hekuba zu Füßen, welche die Schutz¬<lb/>
flehende liebreich aufrichtete, und ihr den Willen des Kö¬<lb/>
niges und ſeiner Söhne verkündete, ſie gegen jeden Angriff<lb/>
zu ſchirmen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></div></body></text></TEI>
[54/0076]
Fremde in den Schutz des Königshauſes aufgenommen
und den Griechen nicht ausgeliefert werden ſollte. Ganz
anders hatte freilich das Volk der Stadt, dem vor einem
feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die
Ankunft des Königsſohnes und ſeinen ſchönen Raub auf¬
genommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen
verfolgt und hier und da war ſelbſt ein Stein nach ihm
geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des Vaters
Pallaſt geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten
König und ſeinem Willen die Trojaner ab, ſich der Auf¬
nahme der neuen Bürgerin ernſtlich zu widerſetzen.
Als nun im Rathe des Priamus der Beſchluß gefaßt
war, die Fürſtin nicht zu verſtoßen, ſandte der König ſeine
eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um ſich zu
überzeugen, daß ſie freiwillig mit Paris nach Troja ge¬
kommen ſey. Da erklärte Helena, „daß ſie durch ihre
eigene Abſtammung den Trojanern ebenſoſehr angehöre
als den Griechen: denn Danaus und Agenor ſeyen eben¬
ſowohl ihre eigenen Stammväter als die Stammhalter
des trojaniſchen Königshauſes. Unfreiwillig geraubt, ſey
ſie jetzt doch durch langen Beſitz und innige Liebe an ihren
neuen Gemahl gefeſſelt und freiwillig die ſeinige. Nach
dem, was geſchehen, könne ſie von ihrem vorigen Gatten
und ihrem Volke keine Verzeihung erwarten; nur Schande
und Tod ſtände ihr bevor, wenn ſie ausgeliefert würde.“
So ſprach ſie mit einem Strom von Thränen und
warf ſich der Königin Hekuba zu Füßen, welche die Schutz¬
flehende liebreich aufrichtete, und ihr den Willen des Kö¬
niges und ſeiner Söhne verkündete, ſie gegen jeden Angriff
zu ſchirmen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/76>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.