Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel stecken; sie sind es fest entschlossen; und bekämpfte ich nun diesen Götter¬ spruch, so mordeten sie euch und mich. Hier hat meine Macht eine Gränze, nicht meinem Bruder Menelaus, son¬ dern ganz Griechenland weiche ich."
Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte sich der König und ließ die jammernden Frauen allein in seinem Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor diesem. "Es ist Achilles," rief Klytämnestra freudig. Vergebens suchte sich Iphigenia in tiefer Beschämung vor dem erheuchelten Bräutigam zu verbergen. Der Sohn des Peleus trat, von einigen Bewaffneten begleitet, hastig in das Zelt: "Unglückliche Tochter Leda's," rief er, "das ganze Lager ist im Aufruhr und verlangt den Tod deiner Tochter; ich selbst, der mich dem Geschrei widersetzte, wäre fast gestei¬ niget worden." -- "Und deine Myrmidonen?" fragte Klytämnestra mit stockendem Athem. "Die empörten sich zuerst," fuhr Achilles fort, "und schalten mich einen liebes¬ kranken Schwätzer. Mit diesem treuen Häuflein hier komme ich, euch gegen den anrückenden Odysseus zu vertheidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Leib soll euch decken, ich will sehen, ob sie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen, von dessen Leben das Schicksal Troja's abhängt." Diese letzten Worte, die einen Schim¬ mer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den Athem wieder.
Jetzt aber machte sich Iphigenia aus ihren Armen los, richtete ihr Haupt auf und stellte sich mit entschlossenen Schritten vor die Königin und den Fürsten: "Höret meine Reden an!" sprach sie mit einer Stimme, die alles Zit¬ tern verloren hatte, "vergebens, liebe Mutter, zürnst du
Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel ſtecken; ſie ſind es feſt entſchloſſen; und bekämpfte ich nun dieſen Götter¬ ſpruch, ſo mordeten ſie euch und mich. Hier hat meine Macht eine Gränze, nicht meinem Bruder Menelaus, ſon¬ dern ganz Griechenland weiche ich.“
Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte ſich der König und ließ die jammernden Frauen allein in ſeinem Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor dieſem. „Es iſt Achilles,“ rief Klytämneſtra freudig. Vergebens ſuchte ſich Iphigenia in tiefer Beſchämung vor dem erheuchelten Bräutigam zu verbergen. Der Sohn des Peleus trat, von einigen Bewaffneten begleitet, haſtig in das Zelt: „Unglückliche Tochter Leda's,“ rief er, „das ganze Lager iſt im Aufruhr und verlangt den Tod deiner Tochter; ich ſelbſt, der mich dem Geſchrei widerſetzte, wäre faſt geſtei¬ niget worden.“ — „Und deine Myrmidonen?“ fragte Klytämneſtra mit ſtockendem Athem. „Die empörten ſich zuerſt,“ fuhr Achilles fort, „und ſchalten mich einen liebes¬ kranken Schwätzer. Mit dieſem treuen Häuflein hier komme ich, euch gegen den anrückenden Odyſſeus zu vertheidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Leib ſoll euch decken, ich will ſehen, ob ſie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen, von deſſen Leben das Schickſal Troja's abhängt.“ Dieſe letzten Worte, die einen Schim¬ mer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den Athem wieder.
Jetzt aber machte ſich Iphigenia aus ihren Armen los, richtete ihr Haupt auf und ſtellte ſich mit entſchloſſenen Schritten vor die Königin und den Fürſten: „Höret meine Reden an!“ ſprach ſie mit einer Stimme, die alles Zit¬ tern verloren hatte, „vergebens, liebe Mutter, zürnſt du
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Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel ſtecken; ſie ſind
es feſt entſchloſſen; und bekämpfte ich nun dieſen Götter¬
ſpruch, ſo mordeten ſie euch und mich. Hier hat meine
Macht eine Gränze, nicht meinem Bruder Menelaus, ſon¬
dern ganz Griechenland weiche ich.“
Ohne weitere Bitten abzuwarten, entfernte ſich der
König und ließ die jammernden Frauen allein in ſeinem
Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor dieſem. „Es
iſt Achilles,“ rief Klytämneſtra freudig. Vergebens ſuchte
ſich Iphigenia in tiefer Beſchämung vor dem erheuchelten
Bräutigam zu verbergen. Der Sohn des Peleus trat,
von einigen Bewaffneten begleitet, haſtig in das Zelt:
„Unglückliche Tochter Leda's,“ rief er, „das ganze Lager
iſt im Aufruhr und verlangt den Tod deiner Tochter; ich
ſelbſt, der mich dem Geſchrei widerſetzte, wäre faſt geſtei¬
niget worden.“ — „Und deine Myrmidonen?“ fragte
Klytämneſtra mit ſtockendem Athem. „Die empörten ſich
zuerſt,“ fuhr Achilles fort, „und ſchalten mich einen liebes¬
kranken Schwätzer. Mit dieſem treuen Häuflein hier komme
ich, euch gegen den anrückenden Odyſſeus zu vertheidigen.
Tochter, klammere dich an deine Mutter; mein Leib ſoll
euch decken, ich will ſehen, ob ſie es wagen, den Sohn
der Göttin anzugreifen, von deſſen Leben das Schickſal
Troja's abhängt.“ Dieſe letzten Worte, die einen Schim¬
mer von Hoffnung enthielten, gaben der Mutter den
Athem wieder.
Jetzt aber machte ſich Iphigenia aus ihren Armen
los, richtete ihr Haupt auf und ſtellte ſich mit entſchloſſenen
Schritten vor die Königin und den Fürſten: „Höret meine
Reden an!“ ſprach ſie mit einer Stimme, die alles Zit¬
tern verloren hatte, „vergebens, liebe Mutter, zürnſt du
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/63>, abgerufen am 24.11.2024.
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