Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Heeres; sie hatten im Pallaste des Königs den Astyanax auf¬
gefunden, Hektors zarten Sohn, rissen ihn aus den Armen
der Mutter und schleuderten ihn, aus Haß gegen Hektor
und sein Geschlecht, von der Zinne eines Thurmes hinab.
Als er der Mutter entrissen wurde, rief diese den Räu¬
bern entgegen: "Warum stürzet ihr nicht auch mich von
der schrecklichen Mauer herab, oder in die lodernden Flam¬
men? Seit mir Achilles den Gatten getödtet, lebte ich
nur noch in unserm Kinde; befreit auch mich von der
Qual eines längeren Lebens!" Aber die Mörder erhörten
sie nicht und gingen davon.

So fand sich der Tod bald in diesem Hause ein, bald
in jenem, und nur ein einziges verschonte er. Dieß war
die Wohnung des greisen Trojaners Antenor, der einst
den Menelaus und Odysseus, als sie nach Troja gekom¬
men waren, am Leben erhalten und gastfreundlich bewir¬
thet hatte. Dafür schenkten ihm jetzt die Danaer dankbar
Leben und Besitzthum.

Aeneas, der herrliche Held, der jüngst noch mit un¬
verwüstlicher Kraft beim Sturme der Stadt von den
Mauern herab gekämpft hatte, als er die Stadt brennen
sah, und nach langer, vergeblicher Gegenwehr dem Feinde,
den er auch jetzt seinen Sieg theuer bezahlen ließ, weichen
mußte, handelte, wie ein muthiger Schiffer im Sturm,
der, nachdem er das Schiff lange gelenkt, endlich das
hoffnungslos Verlorene den Wellen überläßt, und sich in
ein Boot rettet. Er nahm den Vater Anchises auf die
breiten Schultern, seinen Sohn Askanius an die Hand,
und eilte davon. Der Knabe drängte sich dicht an den
Vater und streifte mit den Füßen kaum die Erde; Aeneas
aber sprang mit schnellem Fuß über unzählige Leichen

Heeres; ſie hatten im Pallaſte des Königs den Aſtyanax auf¬
gefunden, Hektors zarten Sohn, riſſen ihn aus den Armen
der Mutter und ſchleuderten ihn, aus Haß gegen Hektor
und ſein Geſchlecht, von der Zinne eines Thurmes hinab.
Als er der Mutter entriſſen wurde, rief dieſe den Räu¬
bern entgegen: „Warum ſtürzet ihr nicht auch mich von
der ſchrecklichen Mauer herab, oder in die lodernden Flam¬
men? Seit mir Achilles den Gatten getödtet, lebte ich
nur noch in unſerm Kinde; befreit auch mich von der
Qual eines längeren Lebens!“ Aber die Mörder erhörten
ſie nicht und gingen davon.

So fand ſich der Tod bald in dieſem Hauſe ein, bald
in jenem, und nur ein einziges verſchonte er. Dieß war
die Wohnung des greiſen Trojaners Antenor, der einſt
den Menelaus und Odyſſeus, als ſie nach Troja gekom¬
men waren, am Leben erhalten und gaſtfreundlich bewir¬
thet hatte. Dafür ſchenkten ihm jetzt die Danaer dankbar
Leben und Beſitzthum.

Aeneas, der herrliche Held, der jüngſt noch mit un¬
verwüſtlicher Kraft beim Sturme der Stadt von den
Mauern herab gekämpft hatte, als er die Stadt brennen
ſah, und nach langer, vergeblicher Gegenwehr dem Feinde,
den er auch jetzt ſeinen Sieg theuer bezahlen ließ, weichen
mußte, handelte, wie ein muthiger Schiffer im Sturm,
der, nachdem er das Schiff lange gelenkt, endlich das
hoffnungslos Verlorene den Wellen überläßt, und ſich in
ein Boot rettet. Er nahm den Vater Anchiſes auf die
breiten Schultern, ſeinen Sohn Askanius an die Hand,
und eilte davon. Der Knabe drängte ſich dicht an den
Vater und ſtreifte mit den Füßen kaum die Erde; Aeneas
aber ſprang mit ſchnellem Fuß über unzählige Leichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0443" n="421"/>
Heeres; &#x017F;ie hatten im Palla&#x017F;te des Königs den A&#x017F;tyanax auf¬<lb/>
gefunden, Hektors zarten Sohn, ri&#x017F;&#x017F;en ihn aus den Armen<lb/>
der Mutter und &#x017F;chleuderten ihn, aus Haß gegen Hektor<lb/>
und &#x017F;ein Ge&#x017F;chlecht, von der Zinne eines Thurmes hinab.<lb/>
Als er der Mutter entri&#x017F;&#x017F;en wurde, rief die&#x017F;e den Räu¬<lb/>
bern entgegen: &#x201E;Warum &#x017F;türzet ihr nicht auch mich von<lb/>
der &#x017F;chrecklichen Mauer herab, oder in die lodernden Flam¬<lb/>
men? Seit mir Achilles den Gatten getödtet, lebte ich<lb/>
nur noch in un&#x017F;erm Kinde; befreit auch mich von der<lb/>
Qual eines längeren Lebens!&#x201C; Aber die Mörder erhörten<lb/>
&#x017F;ie nicht und gingen davon.</p><lb/>
          <p>So fand &#x017F;ich der Tod bald in die&#x017F;em Hau&#x017F;e ein, bald<lb/>
in jenem, und nur ein einziges ver&#x017F;chonte er. Dieß war<lb/>
die Wohnung des grei&#x017F;en Trojaners Antenor, der ein&#x017F;t<lb/>
den Menelaus und Ody&#x017F;&#x017F;eus, als &#x017F;ie nach Troja gekom¬<lb/>
men waren, am Leben erhalten und ga&#x017F;tfreundlich bewir¬<lb/>
thet hatte. Dafür &#x017F;chenkten ihm jetzt die Danaer dankbar<lb/>
Leben und Be&#x017F;itzthum.</p><lb/>
          <p>Aeneas, der herrliche Held, der jüng&#x017F;t noch mit un¬<lb/>
verwü&#x017F;tlicher Kraft beim Sturme der Stadt von den<lb/>
Mauern herab gekämpft hatte, als er die Stadt brennen<lb/>
&#x017F;ah, und nach langer, vergeblicher Gegenwehr dem Feinde,<lb/>
den er auch jetzt &#x017F;einen Sieg theuer bezahlen ließ, weichen<lb/>
mußte, handelte, wie ein muthiger Schiffer im Sturm,<lb/>
der, nachdem er das Schiff lange gelenkt, endlich das<lb/>
hoffnungslos Verlorene den Wellen überläßt, und &#x017F;ich in<lb/>
ein Boot rettet. Er nahm den Vater Anchi&#x017F;es auf die<lb/>
breiten Schultern, &#x017F;einen Sohn Askanius an die Hand,<lb/>
und eilte davon. Der Knabe drängte &#x017F;ich dicht an den<lb/>
Vater und &#x017F;treifte mit den Füßen kaum die Erde; Aeneas<lb/>
aber &#x017F;prang mit &#x017F;chnellem Fuß über unzählige Leichen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[421/0443] Heeres; ſie hatten im Pallaſte des Königs den Aſtyanax auf¬ gefunden, Hektors zarten Sohn, riſſen ihn aus den Armen der Mutter und ſchleuderten ihn, aus Haß gegen Hektor und ſein Geſchlecht, von der Zinne eines Thurmes hinab. Als er der Mutter entriſſen wurde, rief dieſe den Räu¬ bern entgegen: „Warum ſtürzet ihr nicht auch mich von der ſchrecklichen Mauer herab, oder in die lodernden Flam¬ men? Seit mir Achilles den Gatten getödtet, lebte ich nur noch in unſerm Kinde; befreit auch mich von der Qual eines längeren Lebens!“ Aber die Mörder erhörten ſie nicht und gingen davon. So fand ſich der Tod bald in dieſem Hauſe ein, bald in jenem, und nur ein einziges verſchonte er. Dieß war die Wohnung des greiſen Trojaners Antenor, der einſt den Menelaus und Odyſſeus, als ſie nach Troja gekom¬ men waren, am Leben erhalten und gaſtfreundlich bewir¬ thet hatte. Dafür ſchenkten ihm jetzt die Danaer dankbar Leben und Beſitzthum. Aeneas, der herrliche Held, der jüngſt noch mit un¬ verwüſtlicher Kraft beim Sturme der Stadt von den Mauern herab gekämpft hatte, als er die Stadt brennen ſah, und nach langer, vergeblicher Gegenwehr dem Feinde, den er auch jetzt ſeinen Sieg theuer bezahlen ließ, weichen mußte, handelte, wie ein muthiger Schiffer im Sturm, der, nachdem er das Schiff lange gelenkt, endlich das hoffnungslos Verlorene den Wellen überläßt, und ſich in ein Boot rettet. Er nahm den Vater Anchiſes auf die breiten Schultern, ſeinen Sohn Askanius an die Hand, und eilte davon. Der Knabe drängte ſich dicht an den Vater und ſtreifte mit den Füßen kaum die Erde; Aeneas aber ſprang mit ſchnellem Fuß über unzählige Leichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/443
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/443>, abgerufen am 22.11.2024.