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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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hölzerne Riesenpferd, das sie als Weihgeschenk für die
beleidigte Göttin zurückließen, um ihren Zorn zu versöh¬
nen. Diese Maschine ließ Kalchas so unermeßlich in die
Höhe bauen, wie ihr sehet, damit ihr Trojaner sie nicht
durch eure Thore führen und in eure Stadt bringen könn¬
tet, weil auf diese Weise der Schutz der Minerva Euch
zu Theil werden würde. Wenn hingegen eure Hand sich
an dem geheiligten Pferde, als einem Ueberbleibsel eurer
Feinde, vergriffe -- dieß war es, was sie zu hoffen wag¬
ten -- dann wäre euer und eurer Stadt Verderben gewiß.
Und in dieser Zuversicht gedenken sie in kurzer Frist, sobald
sie zu Argos die Götterbefehle vernommen, zurückzukehren,
und hoffen, das Palladium der Göttin eurer eroberten
Stadt zurückgeben zu können."

Das Lügengewebe war so wahrscheinlich ersonnen,
daß Priamus und alle Trojaner dem Betrüger Glauben
schenkten. Minerva aber wachte über das Geschick ihrer
Freunde, die in dem Rosse noch immer in banger Erwar¬
tung eingeschlossen saßen und seit der Warnung des Lao¬
koon in beständiger Todesangst schwebten. Die Helden
wurden aus dieser Gefahr durch ein entsetzliches Wunder
befreit. Eben jener Laokoon, der Priester des Apollo, hatte
nach dem Tode des Neptunuspriesters auch diese Würde durchs
Loos erhalten und opferte jetzt gerade am Meeresgestade
dem Gott einen stattlichen Stier am Altare. Siehe, da
kamen von der Insel Tenedos aus durch die spiegelglatte
Meerfluth zwei ungeheure Schlangen gerudert und nahmen
ihren Weg nach dem Ufer: ihre Brust und die blutrothe
Mähne ragten aus dem Wasser hervor, der übrige Theil
ihrer Leiber ringelte sich unter den Fluthen fort. Die
See plätscherte unter ihrer Spur, und jetzt waren sie am

hölzerne Rieſenpferd, das ſie als Weihgeſchenk für die
beleidigte Göttin zurückließen, um ihren Zorn zu verſöh¬
nen. Dieſe Maſchine ließ Kalchas ſo unermeßlich in die
Höhe bauen, wie ihr ſehet, damit ihr Trojaner ſie nicht
durch eure Thore führen und in eure Stadt bringen könn¬
tet, weil auf dieſe Weiſe der Schutz der Minerva Euch
zu Theil werden würde. Wenn hingegen eure Hand ſich
an dem geheiligten Pferde, als einem Ueberbleibſel eurer
Feinde, vergriffe — dieß war es, was ſie zu hoffen wag¬
ten — dann wäre euer und eurer Stadt Verderben gewiß.
Und in dieſer Zuverſicht gedenken ſie in kurzer Friſt, ſobald
ſie zu Argos die Götterbefehle vernommen, zurückzukehren,
und hoffen, das Palladium der Göttin eurer eroberten
Stadt zurückgeben zu können.“

Das Lügengewebe war ſo wahrſcheinlich erſonnen,
daß Priamus und alle Trojaner dem Betrüger Glauben
ſchenkten. Minerva aber wachte über das Geſchick ihrer
Freunde, die in dem Roſſe noch immer in banger Erwar¬
tung eingeſchloſſen ſaßen und ſeit der Warnung des Lao¬
koon in beſtändiger Todesangſt ſchwebten. Die Helden
wurden aus dieſer Gefahr durch ein entſetzliches Wunder
befreit. Eben jener Laokoon, der Prieſter des Apollo, hatte
nach dem Tode des Neptunusprieſters auch dieſe Würde durchs
Loos erhalten und opferte jetzt gerade am Meeresgeſtade
dem Gott einen ſtattlichen Stier am Altare. Siehe, da
kamen von der Inſel Tenedos aus durch die ſpiegelglatte
Meerfluth zwei ungeheure Schlangen gerudert und nahmen
ihren Weg nach dem Ufer: ihre Bruſt und die blutrothe
Mähne ragten aus dem Waſſer hervor, der übrige Theil
ihrer Leiber ringelte ſich unter den Fluthen fort. Die
See plätſcherte unter ihrer Spur, und jetzt waren ſie am

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[414/0436] hölzerne Rieſenpferd, das ſie als Weihgeſchenk für die beleidigte Göttin zurückließen, um ihren Zorn zu verſöh¬ nen. Dieſe Maſchine ließ Kalchas ſo unermeßlich in die Höhe bauen, wie ihr ſehet, damit ihr Trojaner ſie nicht durch eure Thore führen und in eure Stadt bringen könn¬ tet, weil auf dieſe Weiſe der Schutz der Minerva Euch zu Theil werden würde. Wenn hingegen eure Hand ſich an dem geheiligten Pferde, als einem Ueberbleibſel eurer Feinde, vergriffe — dieß war es, was ſie zu hoffen wag¬ ten — dann wäre euer und eurer Stadt Verderben gewiß. Und in dieſer Zuverſicht gedenken ſie in kurzer Friſt, ſobald ſie zu Argos die Götterbefehle vernommen, zurückzukehren, und hoffen, das Palladium der Göttin eurer eroberten Stadt zurückgeben zu können.“ Das Lügengewebe war ſo wahrſcheinlich erſonnen, daß Priamus und alle Trojaner dem Betrüger Glauben ſchenkten. Minerva aber wachte über das Geſchick ihrer Freunde, die in dem Roſſe noch immer in banger Erwar¬ tung eingeſchloſſen ſaßen und ſeit der Warnung des Lao¬ koon in beſtändiger Todesangſt ſchwebten. Die Helden wurden aus dieſer Gefahr durch ein entſetzliches Wunder befreit. Eben jener Laokoon, der Prieſter des Apollo, hatte nach dem Tode des Neptunusprieſters auch dieſe Würde durchs Loos erhalten und opferte jetzt gerade am Meeresgeſtade dem Gott einen ſtattlichen Stier am Altare. Siehe, da kamen von der Inſel Tenedos aus durch die ſpiegelglatte Meerfluth zwei ungeheure Schlangen gerudert und nahmen ihren Weg nach dem Ufer: ihre Bruſt und die blutrothe Mähne ragten aus dem Waſſer hervor, der übrige Theil ihrer Leiber ringelte ſich unter den Fluthen fort. Die See plätſcherte unter ihrer Spur, und jetzt waren ſie am

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/436>, abgerufen am 25.11.2024.