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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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Lanze, die er einem neben ihm stehenden Krieger entriß,
in den Bauch der Maschine. Der Speer zitterte im Holz
und aus der Tiefe tönte ein Wiederhall wie aus einer
Kellerhöhle. Aber der Geist der Trojaner blieb verblendet.

Während dieß vorging, zogen einige Hirten, welche
die Neugierde dicht an das hölzerne Pferd herangelockt
hatte, unter dem Bauche desselben den schlauen Sinon her¬
vor, und schleppten ihn, als einen gefangenen Griechen,
vor den König Priamus, und bald sammelte sich das
trojanische Kriegsvolk, das bisher um das Pferd herum¬
gestanden hatte, um dieses neue Schauspiel. Er aber,
waffenlos und zagend, spielte die Rolle, die ihm von Odys¬
seus aufgegeben war. Flehend streckte er die Arme gen
Himmel und dann wieder nach den Umstehenden aus, und
rief unter Schluchzen: "Wehe mir, welchem Lande, wel¬
chem Meere soll ich mich anvertrauen, den die Griechen
ausgestoßen haben und die Trojaner niedermetzeln wer¬
den!" Diese Seufzer rührten die Jünglinge selbst, die
ihn anfangs als einen Feind gepackt und roh behandelt
hatten. Alle Krieger traten theilnehmend herzu und hie¬
ßen ihn sagen, wer und woher er sey, auch guten Muthes
seyn, wenn er nichts Feindliches im Schilde führe. Jener
ließ die erheuchelte Furcht endlich fahren und sprach: "Ich
bin ein Argiver, das will ich ja nicht läugnen; wenn
Sinon auch unglücklich ist, so soll er doch nicht zum Lüg¬
ner werden. Vielleicht habt ihr etwas von dem euböischen
Fürsten Palamedes gehört, der von den Griechen auf
Odysseus' Anstiften abscheulicher Weise gesteinigt wurde,
weil er den Feldzug gegen eure Stadt mißrieth: als sein
Verwandter zog ich in diesen Krieg, arm und nach seinem
Tod ohne Stütze. Und weil ich es wagte, mit Rache für

Lanze, die er einem neben ihm ſtehenden Krieger entriß,
in den Bauch der Maſchine. Der Speer zitterte im Holz
und aus der Tiefe tönte ein Wiederhall wie aus einer
Kellerhöhle. Aber der Geiſt der Trojaner blieb verblendet.

Während dieß vorging, zogen einige Hirten, welche
die Neugierde dicht an das hölzerne Pferd herangelockt
hatte, unter dem Bauche deſſelben den ſchlauen Sinon her¬
vor, und ſchleppten ihn, als einen gefangenen Griechen,
vor den König Priamus, und bald ſammelte ſich das
trojaniſche Kriegsvolk, das bisher um das Pferd herum¬
geſtanden hatte, um dieſes neue Schauſpiel. Er aber,
waffenlos und zagend, ſpielte die Rolle, die ihm von Odyſ¬
ſeus aufgegeben war. Flehend ſtreckte er die Arme gen
Himmel und dann wieder nach den Umſtehenden aus, und
rief unter Schluchzen: „Wehe mir, welchem Lande, wel¬
chem Meere ſoll ich mich anvertrauen, den die Griechen
ausgeſtoßen haben und die Trojaner niedermetzeln wer¬
den!“ Dieſe Seufzer rührten die Jünglinge ſelbſt, die
ihn anfangs als einen Feind gepackt und roh behandelt
hatten. Alle Krieger traten theilnehmend herzu und hie¬
ßen ihn ſagen, wer und woher er ſey, auch guten Muthes
ſeyn, wenn er nichts Feindliches im Schilde führe. Jener
ließ die erheuchelte Furcht endlich fahren und ſprach: „Ich
bin ein Argiver, das will ich ja nicht läugnen; wenn
Sinon auch unglücklich iſt, ſo ſoll er doch nicht zum Lüg¬
ner werden. Vielleicht habt ihr etwas von dem euböiſchen
Fürſten Palamedes gehört, der von den Griechen auf
Odyſſeus' Anſtiften abſcheulicher Weiſe geſteinigt wurde,
weil er den Feldzug gegen eure Stadt mißrieth: als ſein
Verwandter zog ich in dieſen Krieg, arm und nach ſeinem
Tod ohne Stütze. Und weil ich es wagte, mit Rache für

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[411/0433] Lanze, die er einem neben ihm ſtehenden Krieger entriß, in den Bauch der Maſchine. Der Speer zitterte im Holz und aus der Tiefe tönte ein Wiederhall wie aus einer Kellerhöhle. Aber der Geiſt der Trojaner blieb verblendet. Während dieß vorging, zogen einige Hirten, welche die Neugierde dicht an das hölzerne Pferd herangelockt hatte, unter dem Bauche deſſelben den ſchlauen Sinon her¬ vor, und ſchleppten ihn, als einen gefangenen Griechen, vor den König Priamus, und bald ſammelte ſich das trojaniſche Kriegsvolk, das bisher um das Pferd herum¬ geſtanden hatte, um dieſes neue Schauſpiel. Er aber, waffenlos und zagend, ſpielte die Rolle, die ihm von Odyſ¬ ſeus aufgegeben war. Flehend ſtreckte er die Arme gen Himmel und dann wieder nach den Umſtehenden aus, und rief unter Schluchzen: „Wehe mir, welchem Lande, wel¬ chem Meere ſoll ich mich anvertrauen, den die Griechen ausgeſtoßen haben und die Trojaner niedermetzeln wer¬ den!“ Dieſe Seufzer rührten die Jünglinge ſelbſt, die ihn anfangs als einen Feind gepackt und roh behandelt hatten. Alle Krieger traten theilnehmend herzu und hie¬ ßen ihn ſagen, wer und woher er ſey, auch guten Muthes ſeyn, wenn er nichts Feindliches im Schilde führe. Jener ließ die erheuchelte Furcht endlich fahren und ſprach: „Ich bin ein Argiver, das will ich ja nicht läugnen; wenn Sinon auch unglücklich iſt, ſo ſoll er doch nicht zum Lüg¬ ner werden. Vielleicht habt ihr etwas von dem euböiſchen Fürſten Palamedes gehört, der von den Griechen auf Odyſſeus' Anſtiften abſcheulicher Weiſe geſteinigt wurde, weil er den Feldzug gegen eure Stadt mißrieth: als ſein Verwandter zog ich in dieſen Krieg, arm und nach ſeinem Tod ohne Stütze. Und weil ich es wagte, mit Rache für

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/433>, abgerufen am 25.11.2024.