Weiber, von der Mauer herab deine Feinde mit Steinen bekämpfst. Wohlan, wenn du ein Mann bist, so komm in der Rüstung vor die Thore heraus und erprobe deinen Bogen und deine Lanze im Kampfe mit dem muthigen Sohne des Pöas!" Der Trojaner hatte nicht Zeit ihm zu antworten, denn die Vertheidigung der Stadt rief ihn nach einer andern Stelle der Mauer, und auch Philoktetes wurde zu neuem rastlosen Kampfe hinweggerissen.
Das hölzerne Pferd.
Nachdem nun die Griechen lange erfolglos um Thore und Mauern von Troja gekämpft und der versuchte Sturm auf allen Seiten abgeschlagen worden war, rief der Seher Kalchas eine Versammlung der vornehmsten Helden zu¬ sammen und redete so vor ihnen: "Unterziehet euch nicht ferner den Mühseligkeiten eines gewaltsamen Kampfes, denn auf diesem Wege kommt ihr nicht zum Ziele: besin¬ net euch vielmehr auf irgend einen Anschlag, der euren Schiffen und euch selber zum Heile gereichen mag. Denn vernehmet, was für ein Zeichen ich gestern geschaut habe. Ein Habicht jagte einem Täubchen nach; dieses aber schlüpfte in die Spalten eines Felsen hinein, um seinem Verfolger zu entgehen. Lange verweilte dieser grimmig vor dem Felsenspalt, aber das Thierchen ging nicht her¬ aus; da verbarg sich der Raubvogel mit unterdrücktem Unmuth ins nahe Gebüsch: und, siehe da, jetzt schlüpfte das Täublein in seiner Thorheit wieder heraus, der Ha¬ bicht aber schießt auf das arme Thier nieder und erwürgt
Weiber, von der Mauer herab deine Feinde mit Steinen bekämpfſt. Wohlan, wenn du ein Mann biſt, ſo komm in der Rüſtung vor die Thore heraus und erprobe deinen Bogen und deine Lanze im Kampfe mit dem muthigen Sohne des Pöas!“ Der Trojaner hatte nicht Zeit ihm zu antworten, denn die Vertheidigung der Stadt rief ihn nach einer andern Stelle der Mauer, und auch Philoktetes wurde zu neuem raſtloſen Kampfe hinweggeriſſen.
Das hölzerne Pferd.
Nachdem nun die Griechen lange erfolglos um Thore und Mauern von Troja gekämpft und der verſuchte Sturm auf allen Seiten abgeſchlagen worden war, rief der Seher Kalchas eine Verſammlung der vornehmſten Helden zu¬ ſammen und redete ſo vor ihnen: „Unterziehet euch nicht ferner den Mühſeligkeiten eines gewaltſamen Kampfes, denn auf dieſem Wege kommt ihr nicht zum Ziele: beſin¬ net euch vielmehr auf irgend einen Anſchlag, der euren Schiffen und euch ſelber zum Heile gereichen mag. Denn vernehmet, was für ein Zeichen ich geſtern geſchaut habe. Ein Habicht jagte einem Täubchen nach; dieſes aber ſchlüpfte in die Spalten eines Felſen hinein, um ſeinem Verfolger zu entgehen. Lange verweilte dieſer grimmig vor dem Felſenſpalt, aber das Thierchen ging nicht her¬ aus; da verbarg ſich der Raubvogel mit unterdrücktem Unmuth ins nahe Gebüſch: und, ſiehe da, jetzt ſchlüpfte das Täublein in ſeiner Thorheit wieder heraus, der Ha¬ bicht aber ſchießt auf das arme Thier nieder und erwürgt
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0424"n="402"/>
Weiber, von der Mauer herab deine Feinde mit Steinen<lb/>
bekämpfſt. Wohlan, wenn du ein Mann biſt, ſo komm in<lb/>
der Rüſtung vor die Thore heraus und erprobe deinen<lb/>
Bogen und deine Lanze im Kampfe mit dem muthigen<lb/>
Sohne des Pöas!“ Der Trojaner hatte nicht Zeit ihm<lb/>
zu antworten, denn die Vertheidigung der Stadt rief ihn<lb/>
nach einer andern Stelle der Mauer, und auch Philoktetes<lb/>
wurde zu neuem raſtloſen Kampfe hinweggeriſſen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="2"><head><hirendition="#b">Das hölzerne Pferd.</hi><lb/></head><p>Nachdem nun die Griechen lange erfolglos um Thore<lb/>
und Mauern von Troja gekämpft und der verſuchte Sturm<lb/>
auf allen Seiten abgeſchlagen worden war, rief der Seher<lb/>
Kalchas eine Verſammlung der vornehmſten Helden zu¬<lb/>ſammen und redete ſo vor ihnen: „Unterziehet euch nicht<lb/>
ferner den Mühſeligkeiten eines gewaltſamen Kampfes,<lb/>
denn auf dieſem Wege kommt ihr nicht zum Ziele: beſin¬<lb/>
net euch vielmehr auf irgend einen Anſchlag, der euren<lb/>
Schiffen und euch ſelber zum Heile gereichen mag. Denn<lb/>
vernehmet, was für ein Zeichen ich geſtern geſchaut habe.<lb/>
Ein Habicht jagte einem Täubchen nach; dieſes aber<lb/>ſchlüpfte in die Spalten eines Felſen hinein, um ſeinem<lb/>
Verfolger zu entgehen. Lange verweilte dieſer grimmig<lb/>
vor dem Felſenſpalt, aber das Thierchen ging nicht her¬<lb/>
aus; da verbarg ſich der Raubvogel mit unterdrücktem<lb/>
Unmuth ins nahe Gebüſch: und, ſiehe da, jetzt ſchlüpfte<lb/>
das Täublein in ſeiner Thorheit wieder heraus, der Ha¬<lb/>
bicht aber ſchießt auf das arme Thier nieder und erwürgt<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[402/0424]
Weiber, von der Mauer herab deine Feinde mit Steinen
bekämpfſt. Wohlan, wenn du ein Mann biſt, ſo komm in
der Rüſtung vor die Thore heraus und erprobe deinen
Bogen und deine Lanze im Kampfe mit dem muthigen
Sohne des Pöas!“ Der Trojaner hatte nicht Zeit ihm
zu antworten, denn die Vertheidigung der Stadt rief ihn
nach einer andern Stelle der Mauer, und auch Philoktetes
wurde zu neuem raſtloſen Kampfe hinweggeriſſen.
Das hölzerne Pferd.
Nachdem nun die Griechen lange erfolglos um Thore
und Mauern von Troja gekämpft und der verſuchte Sturm
auf allen Seiten abgeſchlagen worden war, rief der Seher
Kalchas eine Verſammlung der vornehmſten Helden zu¬
ſammen und redete ſo vor ihnen: „Unterziehet euch nicht
ferner den Mühſeligkeiten eines gewaltſamen Kampfes,
denn auf dieſem Wege kommt ihr nicht zum Ziele: beſin¬
net euch vielmehr auf irgend einen Anſchlag, der euren
Schiffen und euch ſelber zum Heile gereichen mag. Denn
vernehmet, was für ein Zeichen ich geſtern geſchaut habe.
Ein Habicht jagte einem Täubchen nach; dieſes aber
ſchlüpfte in die Spalten eines Felſen hinein, um ſeinem
Verfolger zu entgehen. Lange verweilte dieſer grimmig
vor dem Felſenſpalt, aber das Thierchen ging nicht her¬
aus; da verbarg ſich der Raubvogel mit unterdrücktem
Unmuth ins nahe Gebüſch: und, ſiehe da, jetzt ſchlüpfte
das Täublein in ſeiner Thorheit wieder heraus, der Ha¬
bicht aber ſchießt auf das arme Thier nieder und erwürgt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/424>, abgerufen am 19.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.