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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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geschehen, daß wir dich vor Zeiten auf Lemnos zurück¬
gelassen haben; hege nicht länger Groll darüber im Her¬
zen, die Götter haben uns genug dafür gestraft und diese
Versuchung über uns verhängt, um uns ihren Zorn fühlen
zu lassen. Für jetzt nimm die Geschenke freundlich auf,
die wir dir bereitet haben: sieben trojanische Jungfrauen,
zwanzig Rosse und zwölf Dreifüße. Daran labe dein
Herz und nimm in meinem eigenen Zelte Platz. Beim
Mahl und allenthalben soll dir königliche Ehre erwiesen
werden."

"Lieben Freunde," erwiederte Philoktetes gütig, "ich
zürne nicht mehr, weder dir, Agamemnon, noch irgend
einem andern Danaer, sollte sich auch einer an mir ver¬
gangen haben. Weiß ich doch, daß der Sinn edler Män¬
ner beugsam ist und sich bald strenge, bald nachgiebig
zeigen muß. Doch jetzt laßt uns schlafen gehen, denn
wer sich nach dem Kampfe sehnt, thut wohler daran, sich
des Schlummers zu freuen, als des Schmauses!" So
sprach er und eilte ins Gezelt seiner Freunde, wo er bis
an den Morgen behaglich der Ruhe pflegte.

Am andern Tage waren die Trojaner außerhalb der
Mauer mit der Beerdigung ihrer Todten beschäftigt, als
sie die Griechen schon wieder zum Streite heranrücken
sahen. Polydamas, der weise Freund des gefallenen
Hektor, rieth ihnen, im Gefühl ihrer Schwäche sich hinter
die Mauern zurückzuziehen und sich dort getrost zu ver¬
theidigen. "Troja," sprach er, "ist das Werk der Götter
und ihre Werke sind nicht leicht zu zerstören, auch fehlt es
uns weder an Speise noch an Getränk, und in den Hallen
unseres reichen Königes Priamus liegen noch Vorräthe
genug, um dreimal so viel Volk zu sättigen, als wir sind."

geſchehen, daß wir dich vor Zeiten auf Lemnos zurück¬
gelaſſen haben; hege nicht länger Groll darüber im Her¬
zen, die Götter haben uns genug dafür geſtraft und dieſe
Verſuchung über uns verhängt, um uns ihren Zorn fühlen
zu laſſen. Für jetzt nimm die Geſchenke freundlich auf,
die wir dir bereitet haben: ſieben trojaniſche Jungfrauen,
zwanzig Roſſe und zwölf Dreifüße. Daran labe dein
Herz und nimm in meinem eigenen Zelte Platz. Beim
Mahl und allenthalben ſoll dir königliche Ehre erwieſen
werden.“

„Lieben Freunde,“ erwiederte Philoktetes gütig, „ich
zürne nicht mehr, weder dir, Agamemnon, noch irgend
einem andern Danaer, ſollte ſich auch einer an mir ver¬
gangen haben. Weiß ich doch, daß der Sinn edler Män¬
ner beugſam iſt und ſich bald ſtrenge, bald nachgiebig
zeigen muß. Doch jetzt laßt uns ſchlafen gehen, denn
wer ſich nach dem Kampfe ſehnt, thut wohler daran, ſich
des Schlummers zu freuen, als des Schmauſes!“ So
ſprach er und eilte ins Gezelt ſeiner Freunde, wo er bis
an den Morgen behaglich der Ruhe pflegte.

Am andern Tage waren die Trojaner außerhalb der
Mauer mit der Beerdigung ihrer Todten beſchäftigt, als
ſie die Griechen ſchon wieder zum Streite heranrücken
ſahen. Polydamas, der weiſe Freund des gefallenen
Hektor, rieth ihnen, im Gefühl ihrer Schwäche ſich hinter
die Mauern zurückzuziehen und ſich dort getroſt zu ver¬
theidigen. „Troja,“ ſprach er, „iſt das Werk der Götter
und ihre Werke ſind nicht leicht zu zerſtören, auch fehlt es
uns weder an Speiſe noch an Getränk, und in den Hallen
unſeres reichen Königes Priamus liegen noch Vorräthe
genug, um dreimal ſo viel Volk zu ſättigen, als wir ſind.“

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[393/0415] geſchehen, daß wir dich vor Zeiten auf Lemnos zurück¬ gelaſſen haben; hege nicht länger Groll darüber im Her¬ zen, die Götter haben uns genug dafür geſtraft und dieſe Verſuchung über uns verhängt, um uns ihren Zorn fühlen zu laſſen. Für jetzt nimm die Geſchenke freundlich auf, die wir dir bereitet haben: ſieben trojaniſche Jungfrauen, zwanzig Roſſe und zwölf Dreifüße. Daran labe dein Herz und nimm in meinem eigenen Zelte Platz. Beim Mahl und allenthalben ſoll dir königliche Ehre erwieſen werden.“ „Lieben Freunde,“ erwiederte Philoktetes gütig, „ich zürne nicht mehr, weder dir, Agamemnon, noch irgend einem andern Danaer, ſollte ſich auch einer an mir ver¬ gangen haben. Weiß ich doch, daß der Sinn edler Män¬ ner beugſam iſt und ſich bald ſtrenge, bald nachgiebig zeigen muß. Doch jetzt laßt uns ſchlafen gehen, denn wer ſich nach dem Kampfe ſehnt, thut wohler daran, ſich des Schlummers zu freuen, als des Schmauſes!“ So ſprach er und eilte ins Gezelt ſeiner Freunde, wo er bis an den Morgen behaglich der Ruhe pflegte. Am andern Tage waren die Trojaner außerhalb der Mauer mit der Beerdigung ihrer Todten beſchäftigt, als ſie die Griechen ſchon wieder zum Streite heranrücken ſahen. Polydamas, der weiſe Freund des gefallenen Hektor, rieth ihnen, im Gefühl ihrer Schwäche ſich hinter die Mauern zurückzuziehen und ſich dort getroſt zu ver¬ theidigen. „Troja,“ ſprach er, „iſt das Werk der Götter und ihre Werke ſind nicht leicht zu zerſtören, auch fehlt es uns weder an Speiſe noch an Getränk, und in den Hallen unſeres reichen Königes Priamus liegen noch Vorräthe genug, um dreimal ſo viel Volk zu ſättigen, als wir ſind.“

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/415>, abgerufen am 22.11.2024.