Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Busen und fing an mit allen seinen Kräften auf das
Thier loszuschlagen. In diesem Augenblicke trat Minerva
von hinten zu ihm, berührte sein Haupt, und befahl dem
Wahnsinne von ihm zu weichen. So fand sich der unglück¬
liche Held wieder, die Geißel in der Hand, vor sich den
angebundenen Widder mit zerfleischtem Rücken; dieser An¬
blick sagte ihm genug. Das schmähliche Werkzeug entfiel
seiner Hand, die Heldenkraft entschwand ihm, er sank zu
Boden von der Ahnung getroffen, daß der Zorn der Göt¬
ter ihn heimgesucht habe. Unaussprechliche Schmerzen be¬
stürmten sein Herz. Als er sich wieder vom Staube erho¬
ben, vermochte er vor Unmuth den Fuß weder vorwärts
noch rückwärts zu setzen, sondern stand lange unbeweglich
da, wie ein Wartthurm, der in Felsen wurzelt; endlich
holte er einen tiefen Seufzer und sprach: "Wehe mir,
warum hassen mich die Unsterblichen, warum haben sie
mich in so tiefe Schmach gestürzt, dem arglistigen Odysseus
zu Liebe? Hier steh' ich, der Mann, dem kein Männer¬
treffen je Unehre gebracht hat, die Hände mit unschuldigem
Lämmerblute besudelt, ein Gelächter dem ganzen Heere,
ein Spott meiner Feinde!"

Während er so jammerte, suchte ihn im ganzen Lager
und bei den Schiffen, seinen kleinen Sohn Eurysaces auf
dem Arme, die phrygische Königstochter Tekmessa, die Ajax,
da er ihr Vaterland überfallen, als Beute fortgeführt hatte,
die er einer Gattin gleich hielt, und die ihn zärtlich liebte.
Sie hatte seinen finstern Unmuth im Zelte beobachtet, ohne
dessen Grund erforschen zu können, da ihr Ajax auf keine
Frage Antwort gegeben hatte. Bald nachdem er das Zelt
verlassen hatte, stieg ihr eine finstere Ahnung im Herzen
auf, und sie fand endlich bei den Schafhürden das traurige

dem Buſen und fing an mit allen ſeinen Kräften auf das
Thier loszuſchlagen. In dieſem Augenblicke trat Minerva
von hinten zu ihm, berührte ſein Haupt, und befahl dem
Wahnſinne von ihm zu weichen. So fand ſich der unglück¬
liche Held wieder, die Geißel in der Hand, vor ſich den
angebundenen Widder mit zerfleiſchtem Rücken; dieſer An¬
blick ſagte ihm genug. Das ſchmähliche Werkzeug entfiel
ſeiner Hand, die Heldenkraft entſchwand ihm, er ſank zu
Boden von der Ahnung getroffen, daß der Zorn der Göt¬
ter ihn heimgeſucht habe. Unausſprechliche Schmerzen be¬
ſtürmten ſein Herz. Als er ſich wieder vom Staube erho¬
ben, vermochte er vor Unmuth den Fuß weder vorwärts
noch rückwärts zu ſetzen, ſondern ſtand lange unbeweglich
da, wie ein Wartthurm, der in Felſen wurzelt; endlich
holte er einen tiefen Seufzer und ſprach: „Wehe mir,
warum haſſen mich die Unſterblichen, warum haben ſie
mich in ſo tiefe Schmach geſtürzt, dem argliſtigen Odyſſeus
zu Liebe? Hier ſteh' ich, der Mann, dem kein Männer¬
treffen je Unehre gebracht hat, die Hände mit unſchuldigem
Lämmerblute beſudelt, ein Gelächter dem ganzen Heere,
ein Spott meiner Feinde!“

Während er ſo jammerte, ſuchte ihn im ganzen Lager
und bei den Schiffen, ſeinen kleinen Sohn Euryſaces auf
dem Arme, die phrygiſche Königstochter Tekmeſſa, die Ajax,
da er ihr Vaterland überfallen, als Beute fortgeführt hatte,
die er einer Gattin gleich hielt, und die ihn zärtlich liebte.
Sie hatte ſeinen finſtern Unmuth im Zelte beobachtet, ohne
deſſen Grund erforſchen zu können, da ihr Ajax auf keine
Frage Antwort gegeben hatte. Bald nachdem er das Zelt
verlaſſen hatte, ſtieg ihr eine finſtere Ahnung im Herzen
auf, und ſie fand endlich bei den Schafhürden das traurige

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0386" n="364"/>
dem Bu&#x017F;en und fing an mit allen &#x017F;einen Kräften auf das<lb/>
Thier loszu&#x017F;chlagen. In die&#x017F;em Augenblicke trat Minerva<lb/>
von hinten zu ihm, berührte &#x017F;ein Haupt, und befahl dem<lb/>
Wahn&#x017F;inne von ihm zu weichen. So fand &#x017F;ich der unglück¬<lb/>
liche Held wieder, die Geißel in der Hand, vor &#x017F;ich den<lb/>
angebundenen Widder mit zerflei&#x017F;chtem Rücken; die&#x017F;er An¬<lb/>
blick &#x017F;agte ihm genug. Das &#x017F;chmähliche Werkzeug entfiel<lb/>
&#x017F;einer Hand, die Heldenkraft ent&#x017F;chwand ihm, er &#x017F;ank zu<lb/>
Boden von der Ahnung getroffen, daß der Zorn der Göt¬<lb/>
ter ihn heimge&#x017F;ucht habe. Unaus&#x017F;prechliche Schmerzen be¬<lb/>
&#x017F;türmten &#x017F;ein Herz. Als er &#x017F;ich wieder vom Staube erho¬<lb/>
ben, vermochte er vor Unmuth den Fuß weder vorwärts<lb/>
noch rückwärts zu &#x017F;etzen, &#x017F;ondern &#x017F;tand lange unbeweglich<lb/>
da, wie ein Wartthurm, der in Fel&#x017F;en wurzelt; endlich<lb/>
holte er einen tiefen Seufzer und &#x017F;prach: &#x201E;Wehe mir,<lb/>
warum ha&#x017F;&#x017F;en mich die Un&#x017F;terblichen, warum haben &#x017F;ie<lb/>
mich in &#x017F;o tiefe Schmach ge&#x017F;türzt, dem argli&#x017F;tigen Ody&#x017F;&#x017F;eus<lb/>
zu Liebe? Hier &#x017F;teh' ich, der Mann, dem kein Männer¬<lb/>
treffen je Unehre gebracht hat, die Hände mit un&#x017F;chuldigem<lb/>
Lämmerblute be&#x017F;udelt, ein Gelächter dem ganzen Heere,<lb/>
ein Spott meiner Feinde!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Während er &#x017F;o jammerte, &#x017F;uchte ihn im ganzen Lager<lb/>
und bei den Schiffen, &#x017F;einen kleinen Sohn Eury&#x017F;aces auf<lb/>
dem Arme, die phrygi&#x017F;che Königstochter Tekme&#x017F;&#x017F;a, die Ajax,<lb/>
da er ihr Vaterland überfallen, als Beute fortgeführt hatte,<lb/>
die er einer Gattin gleich hielt, und die ihn zärtlich liebte.<lb/>
Sie hatte &#x017F;einen fin&#x017F;tern Unmuth im Zelte beobachtet, ohne<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Grund erfor&#x017F;chen zu können, da ihr Ajax auf keine<lb/>
Frage Antwort gegeben hatte. Bald nachdem er das Zelt<lb/>
verla&#x017F;&#x017F;en hatte, &#x017F;tieg ihr eine fin&#x017F;tere Ahnung im Herzen<lb/>
auf, und &#x017F;ie fand endlich bei den Schafhürden das traurige<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[364/0386] dem Buſen und fing an mit allen ſeinen Kräften auf das Thier loszuſchlagen. In dieſem Augenblicke trat Minerva von hinten zu ihm, berührte ſein Haupt, und befahl dem Wahnſinne von ihm zu weichen. So fand ſich der unglück¬ liche Held wieder, die Geißel in der Hand, vor ſich den angebundenen Widder mit zerfleiſchtem Rücken; dieſer An¬ blick ſagte ihm genug. Das ſchmähliche Werkzeug entfiel ſeiner Hand, die Heldenkraft entſchwand ihm, er ſank zu Boden von der Ahnung getroffen, daß der Zorn der Göt¬ ter ihn heimgeſucht habe. Unausſprechliche Schmerzen be¬ ſtürmten ſein Herz. Als er ſich wieder vom Staube erho¬ ben, vermochte er vor Unmuth den Fuß weder vorwärts noch rückwärts zu ſetzen, ſondern ſtand lange unbeweglich da, wie ein Wartthurm, der in Felſen wurzelt; endlich holte er einen tiefen Seufzer und ſprach: „Wehe mir, warum haſſen mich die Unſterblichen, warum haben ſie mich in ſo tiefe Schmach geſtürzt, dem argliſtigen Odyſſeus zu Liebe? Hier ſteh' ich, der Mann, dem kein Männer¬ treffen je Unehre gebracht hat, die Hände mit unſchuldigem Lämmerblute beſudelt, ein Gelächter dem ganzen Heere, ein Spott meiner Feinde!“ Während er ſo jammerte, ſuchte ihn im ganzen Lager und bei den Schiffen, ſeinen kleinen Sohn Euryſaces auf dem Arme, die phrygiſche Königstochter Tekmeſſa, die Ajax, da er ihr Vaterland überfallen, als Beute fortgeführt hatte, die er einer Gattin gleich hielt, und die ihn zärtlich liebte. Sie hatte ſeinen finſtern Unmuth im Zelte beobachtet, ohne deſſen Grund erforſchen zu können, da ihr Ajax auf keine Frage Antwort gegeben hatte. Bald nachdem er das Zelt verlaſſen hatte, ſtieg ihr eine finſtere Ahnung im Herzen auf, und ſie fand endlich bei den Schafhürden das traurige

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/386
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/386>, abgerufen am 25.11.2024.