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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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gelobte mein Vater Peleus, ich sollte heimgekehrt dir mein
Haar scheeren, und an deinen Quellen, wo du Hain und
Altar hast, dir fünfzig Widder opfern! Du hast sein
Flehen nicht gehört, Stromgott! du lässest mich nicht heim¬
kehren. So zürne mir auch nicht, wenn ich mein Locken¬
haar dem Freunde Patroklus mit in den Hades zu tragen
gebe!" Mit diesen Worten legte er sein Haupthaar in
die Hände des Freundes, trat zu Agamemnon und sprach:
"Heiß die Völker sich einmal sättigen am Gram, o Fürst!
Gebeut ihnen, sich zu zerstreuen und das Mahl einzuneh¬
men, uns laß das Werk der Bestattung vollenden!"

Auf Agamemnons Befehl zerstreute sich das Krieger¬
volk zu den Schiffen, und nur die bestattenden Fürsten
blieben auf der Stelle. Da fingen sie an ein ungeheures
Gerüst aus den gefällten und behauenen Baumstämmen
aufzuführen, je hundert Fuß ins Gevierte. Oben darauf
legten sie mit betrübten Herzen den Leichnam. Dann zo¬
gen sie eine Menge Schafe und Hornvieh vor dem Scheiter¬
haufen ab; die abgezogenen Leiber wurden umhergehäuft,
mit dem Fette der Leichnam bedeckt, gegen die Bahre
Honig- und Oelkrüge gelehnt, auch vier lebendige Rosse
ächzend auf das Gerüste geworfen; sodann zwei der neun
Haushunde geschlachtet; endlich mit dem Schwert erwürgt
zwölf tapfere trojanische Jünglinge, aus der Zahl der
Gefangenen erlesen. Denn entsetzlich rächte Achilles den
Tod seines Freundes.

Und nun hieß er die Flamme wüthen, und rief, wäh¬
rend der Holzstoß angezündet wurde, dem Todten zu:
"Möge dich noch in die Unterwelt Freude begleiten, Pa¬
troklus! Was ich gelobt habe, ist vollbracht. Zwölf
Opfer verzehrt die Gluth. Nur den Hektor soll sie nicht

gelobte mein Vater Peleus, ich ſollte heimgekehrt dir mein
Haar ſcheeren, und an deinen Quellen, wo du Hain und
Altar haſt, dir fünfzig Widder opfern! Du haſt ſein
Flehen nicht gehört, Stromgott! du läſſeſt mich nicht heim¬
kehren. So zürne mir auch nicht, wenn ich mein Locken¬
haar dem Freunde Patroklus mit in den Hades zu tragen
gebe!“ Mit dieſen Worten legte er ſein Haupthaar in
die Hände des Freundes, trat zu Agamemnon und ſprach:
„Heiß die Völker ſich einmal ſättigen am Gram, o Fürſt!
Gebeut ihnen, ſich zu zerſtreuen und das Mahl einzuneh¬
men, uns laß das Werk der Beſtattung vollenden!“

Auf Agamemnons Befehl zerſtreute ſich das Krieger¬
volk zu den Schiffen, und nur die beſtattenden Fürſten
blieben auf der Stelle. Da fingen ſie an ein ungeheures
Gerüſt aus den gefällten und behauenen Baumſtämmen
aufzuführen, je hundert Fuß ins Gevierte. Oben darauf
legten ſie mit betrübten Herzen den Leichnam. Dann zo¬
gen ſie eine Menge Schafe und Hornvieh vor dem Scheiter¬
haufen ab; die abgezogenen Leiber wurden umhergehäuft,
mit dem Fette der Leichnam bedeckt, gegen die Bahre
Honig- und Oelkrüge gelehnt, auch vier lebendige Roſſe
ächzend auf das Gerüſte geworfen; ſodann zwei der neun
Haushunde geſchlachtet; endlich mit dem Schwert erwürgt
zwölf tapfere trojaniſche Jünglinge, aus der Zahl der
Gefangenen erleſen. Denn entſetzlich rächte Achilles den
Tod ſeines Freundes.

Und nun hieß er die Flamme wüthen, und rief, wäh¬
rend der Holzſtoß angezündet wurde, dem Todten zu:
„Möge dich noch in die Unterwelt Freude begleiten, Pa¬
troklus! Was ich gelobt habe, iſt vollbracht. Zwölf
Opfer verzehrt die Gluth. Nur den Hektor ſoll ſie nicht

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[292/0314] gelobte mein Vater Peleus, ich ſollte heimgekehrt dir mein Haar ſcheeren, und an deinen Quellen, wo du Hain und Altar haſt, dir fünfzig Widder opfern! Du haſt ſein Flehen nicht gehört, Stromgott! du läſſeſt mich nicht heim¬ kehren. So zürne mir auch nicht, wenn ich mein Locken¬ haar dem Freunde Patroklus mit in den Hades zu tragen gebe!“ Mit dieſen Worten legte er ſein Haupthaar in die Hände des Freundes, trat zu Agamemnon und ſprach: „Heiß die Völker ſich einmal ſättigen am Gram, o Fürſt! Gebeut ihnen, ſich zu zerſtreuen und das Mahl einzuneh¬ men, uns laß das Werk der Beſtattung vollenden!“ Auf Agamemnons Befehl zerſtreute ſich das Krieger¬ volk zu den Schiffen, und nur die beſtattenden Fürſten blieben auf der Stelle. Da fingen ſie an ein ungeheures Gerüſt aus den gefällten und behauenen Baumſtämmen aufzuführen, je hundert Fuß ins Gevierte. Oben darauf legten ſie mit betrübten Herzen den Leichnam. Dann zo¬ gen ſie eine Menge Schafe und Hornvieh vor dem Scheiter¬ haufen ab; die abgezogenen Leiber wurden umhergehäuft, mit dem Fette der Leichnam bedeckt, gegen die Bahre Honig- und Oelkrüge gelehnt, auch vier lebendige Roſſe ächzend auf das Gerüſte geworfen; ſodann zwei der neun Haushunde geſchlachtet; endlich mit dem Schwert erwürgt zwölf tapfere trojaniſche Jünglinge, aus der Zahl der Gefangenen erleſen. Denn entſetzlich rächte Achilles den Tod ſeines Freundes. Und nun hieß er die Flamme wüthen, und rief, wäh¬ rend der Holzſtoß angezündet wurde, dem Todten zu: „Möge dich noch in die Unterwelt Freude begleiten, Pa¬ troklus! Was ich gelobt habe, iſt vollbracht. Zwölf Opfer verzehrt die Gluth. Nur den Hektor ſoll ſie nicht

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/314>, abgerufen am 22.11.2024.