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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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vor der Schlacht, du Fernhintreffer, und räumst dem prah¬
lerischen Poseidon den Sieg ein? Du Thor, was trägst
du alsdann auf der Schulter den Bogen, das nichtige
Kinderspiel? Aber Juno verdroß die Spottrede: "Ge¬
denkst du etwa, weil du dein Geschoß auf dem Rücken
trägst, dich mit mir an Stärke zu messen, du Schamlose?"
sprach sie, "wahrlich, dir wäre besser, du gingst in die
Wälder, einen Eber oder Hirsch zu erlegen, als frech
gegen höhere Götter anzukämpfen! Und doch, weil du
so trotzig bist, so magst du meine Hand fühlen." So
schalt sie, ergriff mit der Linken beide Hände der Göttin
am Knöchel, mit der Rechten zog sie ihr den Köcher sammt
den Pfeilen von der Schulter, und versetzte damit der
Zurückgewendeten schimpfliche Streiche um die Ohren, daß
die Pfeile klirrend aus dem Köcher sanken. Wie eine
schüchterne Taube, vom Habicht verfolgt, ließ Diana
Köcher und Pfeile liegen, und floh unter Thränen davon.
Ihre Mutter Latona wäre ihr zu Hülfe geeilt, wenn nicht
Merkur in der Nähe auf der Lauer gestanden wäre. Als
dieser das inne ward, sprach er zu ihr: "Ferne sey von
mir, daß ich mit dir streiten wollte, Latona; gefahrvoll
ist der Kampf mit den Frauen, die der Donnerer seiner
Liebe gewürdigt hat. Deswegen magst du dich immerhin
im Kreise der Unsterblichen rühmen, mir obgesiegt zu haben."
So sprach er freundlich: da eilte Latona herbei, hub den
Bogen, den Köcher und die Pfeile, wie sie wirbelnd da
und dorthin in den Staub gefallen waren, sie sammelnd,
auf, und eilte der Tochter nach, zum Olymp hinan.
Dort hatte sich Artemis weinend auf die Kniee des Va¬
ters gesetzt, und ihr feines, von Ambrosia duftendes
Gewand bebte ihr noch vom Zittern der Glieder. Jupiter

vor der Schlacht, du Fernhintreffer, und räumſt dem prah¬
leriſchen Poſeidon den Sieg ein? Du Thor, was trägſt
du alsdann auf der Schulter den Bogen, das nichtige
Kinderſpiel? Aber Juno verdroß die Spottrede: „Ge¬
denkſt du etwa, weil du dein Geſchoß auf dem Rücken
trägſt, dich mit mir an Stärke zu meſſen, du Schamloſe?“
ſprach ſie, „wahrlich, dir wäre beſſer, du gingſt in die
Wälder, einen Eber oder Hirſch zu erlegen, als frech
gegen höhere Götter anzukämpfen! Und doch, weil du
ſo trotzig biſt, ſo magſt du meine Hand fühlen.“ So
ſchalt ſie, ergriff mit der Linken beide Hände der Göttin
am Knöchel, mit der Rechten zog ſie ihr den Köcher ſammt
den Pfeilen von der Schulter, und verſetzte damit der
Zurückgewendeten ſchimpfliche Streiche um die Ohren, daß
die Pfeile klirrend aus dem Köcher ſanken. Wie eine
ſchüchterne Taube, vom Habicht verfolgt, ließ Diana
Köcher und Pfeile liegen, und floh unter Thränen davon.
Ihre Mutter Latona wäre ihr zu Hülfe geeilt, wenn nicht
Merkur in der Nähe auf der Lauer geſtanden wäre. Als
dieſer das inne ward, ſprach er zu ihr: „Ferne ſey von
mir, daß ich mit dir ſtreiten wollte, Latona; gefahrvoll
iſt der Kampf mit den Frauen, die der Donnerer ſeiner
Liebe gewürdigt hat. Deswegen magſt du dich immerhin
im Kreiſe der Unſterblichen rühmen, mir obgeſiegt zu haben.“
So ſprach er freundlich: da eilte Latona herbei, hub den
Bogen, den Köcher und die Pfeile, wie ſie wirbelnd da
und dorthin in den Staub gefallen waren, ſie ſammelnd,
auf, und eilte der Tochter nach, zum Olymp hinan.
Dort hatte ſich Artemis weinend auf die Kniee des Va¬
ters geſetzt, und ihr feines, von Ambroſia duftendes
Gewand bebte ihr noch vom Zittern der Glieder. Jupiter

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[276/0298] vor der Schlacht, du Fernhintreffer, und räumſt dem prah¬ leriſchen Poſeidon den Sieg ein? Du Thor, was trägſt du alsdann auf der Schulter den Bogen, das nichtige Kinderſpiel? Aber Juno verdroß die Spottrede: „Ge¬ denkſt du etwa, weil du dein Geſchoß auf dem Rücken trägſt, dich mit mir an Stärke zu meſſen, du Schamloſe?“ ſprach ſie, „wahrlich, dir wäre beſſer, du gingſt in die Wälder, einen Eber oder Hirſch zu erlegen, als frech gegen höhere Götter anzukämpfen! Und doch, weil du ſo trotzig biſt, ſo magſt du meine Hand fühlen.“ So ſchalt ſie, ergriff mit der Linken beide Hände der Göttin am Knöchel, mit der Rechten zog ſie ihr den Köcher ſammt den Pfeilen von der Schulter, und verſetzte damit der Zurückgewendeten ſchimpfliche Streiche um die Ohren, daß die Pfeile klirrend aus dem Köcher ſanken. Wie eine ſchüchterne Taube, vom Habicht verfolgt, ließ Diana Köcher und Pfeile liegen, und floh unter Thränen davon. Ihre Mutter Latona wäre ihr zu Hülfe geeilt, wenn nicht Merkur in der Nähe auf der Lauer geſtanden wäre. Als dieſer das inne ward, ſprach er zu ihr: „Ferne ſey von mir, daß ich mit dir ſtreiten wollte, Latona; gefahrvoll iſt der Kampf mit den Frauen, die der Donnerer ſeiner Liebe gewürdigt hat. Deswegen magſt du dich immerhin im Kreiſe der Unſterblichen rühmen, mir obgeſiegt zu haben.“ So ſprach er freundlich: da eilte Latona herbei, hub den Bogen, den Köcher und die Pfeile, wie ſie wirbelnd da und dorthin in den Staub gefallen waren, ſie ſammelnd, auf, und eilte der Tochter nach, zum Olymp hinan. Dort hatte ſich Artemis weinend auf die Kniee des Va¬ ters geſetzt, und ihr feines, von Ambroſia duftendes Gewand bebte ihr noch vom Zittern der Glieder. Jupiter

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/298>, abgerufen am 22.11.2024.