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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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in ihren Reihen seinen Bruder Poseidon; er sah Hektorn
auf dem Wege zur Stadt, mitten im Felde, aus dem
Wagen gehoben, zu Boden liegen, die Genossen um ihn
her; schwer athmete der Bewußtlose und spie Blut; denn
kein Schwächerer hatte ihn getroffen. Voll Mitleid ruhte
der Blick des Vaters der Götter und Menschen auf ihm,
dann wandte er sich drohend zu Juno, sein Angesicht ver¬
finsterte sich und er sprach: "Arglistige Betrügerin, was
hast du gethan? Fürchtest du nicht, die erste Frucht dei¬
nes Frevels selbst zu genießen? Denkst du nicht mehr
daran, wie du, die Füße an zwei Ambose gehängt, die
Hände mit goldner Fessel geschürzt, zur Strafe in der
Luft schwebtest, und kein Olympischer dir zu nahen wagte,
ohne von mir auf die Erde geschleudert zu werden, damals
als du die Götter des Orkans gegen meinen Sohn Herkules
aufgewiegelt? Verlangt dich darnach zum zweitenmale?"

Juno stutzte eine Weile schweigend, dann sprach sie:
"Himmel und Erde und die Fluth des Styx sollen meine
Zeugen seyn, daß nicht mein Geheiß den Erderschütterer
gegen die Trojaner aufgehetzt hat, ihn wird die eigne
Regung getrieben haben. Ja eher möchte ich ihm selbst
freundlich zureden, daß er deinem Befehle, du wolkig
Blickender, sich füge." Jupiters Stirne wurde heiterer,
denn noch immer wirkte der Gürtel Aphrodite's, den Juno
bei sich trug. Endlich sprach er besänftigt: "Hegtest du
im Rathe der Unsterblichen gleiche Gesinnung mit mir,
Gemahlin, so würde freilich Neptunus seinen Sinn bald
nach unser beider Herzen umlenken. Wenn es dir aber
Ernst ist, so geh und rufe mir Iris und Apollo herbei,
daß jene meinem Bruder befehle, aus dem Kampf zum
Pallaste heimzukehren, und Phöbus Apollo den Hektor

in ihren Reihen ſeinen Bruder Poſeidon; er ſah Hektorn
auf dem Wege zur Stadt, mitten im Felde, aus dem
Wagen gehoben, zu Boden liegen, die Genoſſen um ihn
her; ſchwer athmete der Bewußtloſe und ſpie Blut; denn
kein Schwächerer hatte ihn getroffen. Voll Mitleid ruhte
der Blick des Vaters der Götter und Menſchen auf ihm,
dann wandte er ſich drohend zu Juno, ſein Angeſicht ver¬
finſterte ſich und er ſprach: „Argliſtige Betrügerin, was
haſt du gethan? Fürchteſt du nicht, die erſte Frucht dei¬
nes Frevels ſelbſt zu genießen? Denkſt du nicht mehr
daran, wie du, die Füße an zwei Amboſe gehängt, die
Hände mit goldner Feſſel geſchürzt, zur Strafe in der
Luft ſchwebteſt, und kein Olympiſcher dir zu nahen wagte,
ohne von mir auf die Erde geſchleudert zu werden, damals
als du die Götter des Orkans gegen meinen Sohn Herkules
aufgewiegelt? Verlangt dich darnach zum zweitenmale?“

Juno ſtutzte eine Weile ſchweigend, dann ſprach ſie:
„Himmel und Erde und die Fluth des Styx ſollen meine
Zeugen ſeyn, daß nicht mein Geheiß den Erderſchütterer
gegen die Trojaner aufgehetzt hat, ihn wird die eigne
Regung getrieben haben. Ja eher möchte ich ihm ſelbſt
freundlich zureden, daß er deinem Befehle, du wolkig
Blickender, ſich füge.“ Jupiters Stirne wurde heiterer,
denn noch immer wirkte der Gürtel Aphrodite's, den Juno
bei ſich trug. Endlich ſprach er beſänftigt: „Hegteſt du
im Rathe der Unſterblichen gleiche Geſinnung mit mir,
Gemahlin, ſo würde freilich Neptunus ſeinen Sinn bald
nach unſer beider Herzen umlenken. Wenn es dir aber
Ernſt iſt, ſo geh und rufe mir Iris und Apollo herbei,
daß jene meinem Bruder befehle, aus dem Kampf zum
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[205/0227] in ihren Reihen ſeinen Bruder Poſeidon; er ſah Hektorn auf dem Wege zur Stadt, mitten im Felde, aus dem Wagen gehoben, zu Boden liegen, die Genoſſen um ihn her; ſchwer athmete der Bewußtloſe und ſpie Blut; denn kein Schwächerer hatte ihn getroffen. Voll Mitleid ruhte der Blick des Vaters der Götter und Menſchen auf ihm, dann wandte er ſich drohend zu Juno, ſein Angeſicht ver¬ finſterte ſich und er ſprach: „Argliſtige Betrügerin, was haſt du gethan? Fürchteſt du nicht, die erſte Frucht dei¬ nes Frevels ſelbſt zu genießen? Denkſt du nicht mehr daran, wie du, die Füße an zwei Amboſe gehängt, die Hände mit goldner Feſſel geſchürzt, zur Strafe in der Luft ſchwebteſt, und kein Olympiſcher dir zu nahen wagte, ohne von mir auf die Erde geſchleudert zu werden, damals als du die Götter des Orkans gegen meinen Sohn Herkules aufgewiegelt? Verlangt dich darnach zum zweitenmale?“ Juno ſtutzte eine Weile ſchweigend, dann ſprach ſie: „Himmel und Erde und die Fluth des Styx ſollen meine Zeugen ſeyn, daß nicht mein Geheiß den Erderſchütterer gegen die Trojaner aufgehetzt hat, ihn wird die eigne Regung getrieben haben. Ja eher möchte ich ihm ſelbſt freundlich zureden, daß er deinem Befehle, du wolkig Blickender, ſich füge.“ Jupiters Stirne wurde heiterer, denn noch immer wirkte der Gürtel Aphrodite's, den Juno bei ſich trug. Endlich ſprach er beſänftigt: „Hegteſt du im Rathe der Unſterblichen gleiche Geſinnung mit mir, Gemahlin, ſo würde freilich Neptunus ſeinen Sinn bald nach unſer beider Herzen umlenken. Wenn es dir aber Ernſt iſt, ſo geh und rufe mir Iris und Apollo herbei, daß jene meinem Bruder befehle, aus dem Kampf zum Pallaſte heimzukehren, und Phöbus Apollo den Hektor

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/227>, abgerufen am 29.11.2024.