"Mutter, du bist die Gemahlin des Götterköniges, nicht recht wäre es, dir eine solche Bitte zu verweigern." Da¬ mit löste sie sich den wunderköstlichen buntgestickten Gür¬ tel, in dem alle Zauberreize versammelt waren. "Birg ihn," sprach sie, "immerhin in dem Busen, gewiß kehrst du nicht ohne Erfolg von dannen."
Weiter ging nun die Götterkönigin nach dem fernen Thrazien in die Behausung des Schlafes, und beschwor diesen, in der folgenden Nacht dem Göttervater die leuch¬ tenden Augen unter seinen Wimpern tief einzuschläfern. Aber der Schlaf erschrack. Er hatte schon einmal auf Here's Befehl den Sinn des Gottes betäubt, damals als Herkules von dem verwüsteten Troja heimfuhr, und Juno, seine Feindin, ihn auf die Insel Kos verschlagen wollte. Damals hatte Jupiter, als er erwachend den Betrug inne wurde, die Götter im Saale herumgeschleudert und den Schlaf selbst hätte er vertilgt, wenn er nicht in die Arme der Nacht geflüchtet wäre, die Götter und Menschen bän¬ digt. Daran erinnerte jetzt der Schlafgott erschrocken die Gemahlin des Zeus, doch diese beruhigte ihn und sprach: "Was denkst du, Schlaf! Meinst du, Jupiter vertheidige die Trojaner so eifrig, als er seinen Sohn Herkules liebte? sey klug und willfahre mir: thust du es, so will ich dir die jüngste und schönste der Grazien zur Gemahlin geben. Der Gott des Schlummers ließ sie mit einem Schwure beim Styx dieß Versprechen bekräftigen, und versprach, ihr zu gehorchen.
Nun bestieg Juno im Glanz ihrer Schönheit den Gipfel des Ida, und Inbrunst erfüllte das Herz ihres Gemahls, als er sie erblickte, so daß er auf der Stelle des Trojanerkampfs vergaß. "Wie kommst du hierher vom
„Mutter, du biſt die Gemahlin des Götterköniges, nicht recht wäre es, dir eine ſolche Bitte zu verweigern.“ Da¬ mit löste ſie ſich den wunderköſtlichen buntgeſtickten Gür¬ tel, in dem alle Zauberreize verſammelt waren. „Birg ihn,“ ſprach ſie, „immerhin in dem Buſen, gewiß kehrſt du nicht ohne Erfolg von dannen.“
Weiter ging nun die Götterkönigin nach dem fernen Thrazien in die Behauſung des Schlafes, und beſchwor dieſen, in der folgenden Nacht dem Göttervater die leuch¬ tenden Augen unter ſeinen Wimpern tief einzuſchläfern. Aber der Schlaf erſchrack. Er hatte ſchon einmal auf Here's Befehl den Sinn des Gottes betäubt, damals als Herkules von dem verwüſteten Troja heimfuhr, und Juno, ſeine Feindin, ihn auf die Inſel Kos verſchlagen wollte. Damals hatte Jupiter, als er erwachend den Betrug inne wurde, die Götter im Saale herumgeſchleudert und den Schlaf ſelbſt hätte er vertilgt, wenn er nicht in die Arme der Nacht geflüchtet wäre, die Götter und Menſchen bän¬ digt. Daran erinnerte jetzt der Schlafgott erſchrocken die Gemahlin des Zeus, doch dieſe beruhigte ihn und ſprach: „Was denkſt du, Schlaf! Meinſt du, Jupiter vertheidige die Trojaner ſo eifrig, als er ſeinen Sohn Herkules liebte? ſey klug und willfahre mir: thuſt du es, ſo will ich dir die jüngſte und ſchönſte der Grazien zur Gemahlin geben. Der Gott des Schlummers ließ ſie mit einem Schwure beim Styx dieß Verſprechen bekräftigen, und verſprach, ihr zu gehorchen.
Nun beſtieg Juno im Glanz ihrer Schönheit den Gipfel des Ida, und Inbrunſt erfüllte das Herz ihres Gemahls, als er ſie erblickte, ſo daß er auf der Stelle des Trojanerkampfs vergaß. „Wie kommſt du hierher vom
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„Mutter, du biſt die Gemahlin des Götterköniges, nicht
recht wäre es, dir eine ſolche Bitte zu verweigern.“ Da¬
mit löste ſie ſich den wunderköſtlichen buntgeſtickten Gür¬
tel, in dem alle Zauberreize verſammelt waren. „Birg
ihn,“ ſprach ſie, „immerhin in dem Buſen, gewiß kehrſt
du nicht ohne Erfolg von dannen.“
Weiter ging nun die Götterkönigin nach dem fernen
Thrazien in die Behauſung des Schlafes, und beſchwor
dieſen, in der folgenden Nacht dem Göttervater die leuch¬
tenden Augen unter ſeinen Wimpern tief einzuſchläfern.
Aber der Schlaf erſchrack. Er hatte ſchon einmal auf
Here's Befehl den Sinn des Gottes betäubt, damals als
Herkules von dem verwüſteten Troja heimfuhr, und Juno,
ſeine Feindin, ihn auf die Inſel Kos verſchlagen wollte.
Damals hatte Jupiter, als er erwachend den Betrug inne
wurde, die Götter im Saale herumgeſchleudert und den
Schlaf ſelbſt hätte er vertilgt, wenn er nicht in die Arme
der Nacht geflüchtet wäre, die Götter und Menſchen bän¬
digt. Daran erinnerte jetzt der Schlafgott erſchrocken die
Gemahlin des Zeus, doch dieſe beruhigte ihn und ſprach:
„Was denkſt du, Schlaf! Meinſt du, Jupiter vertheidige
die Trojaner ſo eifrig, als er ſeinen Sohn Herkules
liebte? ſey klug und willfahre mir: thuſt du es, ſo will
ich dir die jüngſte und ſchönſte der Grazien zur Gemahlin
geben. Der Gott des Schlummers ließ ſie mit einem
Schwure beim Styx dieß Verſprechen bekräftigen, und
verſprach, ihr zu gehorchen.
Nun beſtieg Juno im Glanz ihrer Schönheit den
Gipfel des Ida, und Inbrunſt erfüllte das Herz ihres
Gemahls, als er ſie erblickte, ſo daß er auf der Stelle des
Trojanerkampfs vergaß. „Wie kommſt du hierher vom
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/223>, abgerufen am 29.11.2024.
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