Sinn meines Freundes, der auch Unschuldige selber leicht beschuldigt." Aber Nestor antwortete ihm mit tiefer Ge¬ müthsbewegung : "Was kümmert sich doch das Herz des Achilles so sehr um die Achiver, die bereits zum Tode wund sind? Alle Tapferen liegen bei den Schiffen umher: Diomedes ist pfeilwund, Odysseus und Agamemnon sind lanzenwund; und diesen unschätzbaren Mann entführte ich so eben, vom Geschoß des Bogens verwundet, aus der Feldschlacht! Aber Achilles kennt kein Erbarmen! Will er vielleicht warten, bis unsre Schiffe am Gestad' in Flam¬ men lodern und wir Griechen Einer um den Andern der Reihe nach hinbluten? O wär' ich noch kräftig wie in meiner Jugend und in meinen besten Mannsjahren, damals, wo ich als Sieger im Hause des Peleus einkehrte! Da sah ich auch deinen Vater Menötius und dich und den klei¬ nen Achilles. Diesen ermahnte der graue Held Peleus, stets der erste zu seyn und allen Andern vorzustreben, dich aber dein Vater, des Peliden Lenker und Freund zu seyn, weil er an Stärke zwar der Größere, am Alter aber hinter dir sey. Erzähle davon dem Achilles; vielleicht rührt ihn auch jetzt deine Zurede." So sprach der Alte und mischte liebliche Erinnerungen aus seiner eigenen Heldenjugend in die Rede, so daß dem Patroklus das Herz im Busen be¬ wegt wurde.
Als er auf der Rückkehr an den Schiffen des Odys¬ seus vorüber eilte, fand er hier den Eurypylus, der, vom Pfeil in den Schenkel verwundet, mühsam aus der Schlacht einhergehinkt kam. Es erbarmte den Sohn des Menötius, wie der wunde Held ihn so kläglich anrief, seiner mit den Künsten Chirons des Centauren, die er gewiß durch Achil¬ les gelernt habe, zu pflegen; so daß Patroklus endlich den
Sinn meines Freundes, der auch Unſchuldige ſelber leicht beſchuldigt.“ Aber Neſtor antwortete ihm mit tiefer Ge¬ müthsbewegung : „Was kümmert ſich doch das Herz des Achilles ſo ſehr um die Achiver, die bereits zum Tode wund ſind? Alle Tapferen liegen bei den Schiffen umher: Diomedes iſt pfeilwund, Odyſſeus und Agamemnon ſind lanzenwund; und dieſen unſchätzbaren Mann entführte ich ſo eben, vom Geſchoß des Bogens verwundet, aus der Feldſchlacht! Aber Achilles kennt kein Erbarmen! Will er vielleicht warten, bis unſre Schiffe am Geſtad' in Flam¬ men lodern und wir Griechen Einer um den Andern der Reihe nach hinbluten? O wär' ich noch kräftig wie in meiner Jugend und in meinen beſten Mannsjahren, damals, wo ich als Sieger im Hauſe des Peleus einkehrte! Da ſah ich auch deinen Vater Menötius und dich und den klei¬ nen Achilles. Dieſen ermahnte der graue Held Peleus, ſtets der erſte zu ſeyn und allen Andern vorzuſtreben, dich aber dein Vater, des Peliden Lenker und Freund zu ſeyn, weil er an Stärke zwar der Größere, am Alter aber hinter dir ſey. Erzähle davon dem Achilles; vielleicht rührt ihn auch jetzt deine Zurede.“ So ſprach der Alte und miſchte liebliche Erinnerungen aus ſeiner eigenen Heldenjugend in die Rede, ſo daß dem Patroklus das Herz im Buſen be¬ wegt wurde.
Als er auf der Rückkehr an den Schiffen des Odyſ¬ ſeus vorüber eilte, fand er hier den Eurypylus, der, vom Pfeil in den Schenkel verwundet, mühſam aus der Schlacht einhergehinkt kam. Es erbarmte den Sohn des Menötius, wie der wunde Held ihn ſo kläglich anrief, ſeiner mit den Künſten Chirons des Centauren, die er gewiß durch Achil¬ les gelernt habe, zu pflegen; ſo daß Patroklus endlich den
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Sinn meines Freundes, der auch Unſchuldige ſelber leicht
beſchuldigt.“ Aber Neſtor antwortete ihm mit tiefer Ge¬
müthsbewegung : „Was kümmert ſich doch das Herz des
Achilles ſo ſehr um die Achiver, die bereits zum Tode
wund ſind? Alle Tapferen liegen bei den Schiffen umher:
Diomedes iſt pfeilwund, Odyſſeus und Agamemnon ſind
lanzenwund; und dieſen unſchätzbaren Mann entführte ich
ſo eben, vom Geſchoß des Bogens verwundet, aus der
Feldſchlacht! Aber Achilles kennt kein Erbarmen! Will
er vielleicht warten, bis unſre Schiffe am Geſtad' in Flam¬
men lodern und wir Griechen Einer um den Andern der
Reihe nach hinbluten? O wär' ich noch kräftig wie in
meiner Jugend und in meinen beſten Mannsjahren, damals,
wo ich als Sieger im Hauſe des Peleus einkehrte! Da
ſah ich auch deinen Vater Menötius und dich und den klei¬
nen Achilles. Dieſen ermahnte der graue Held Peleus,
ſtets der erſte zu ſeyn und allen Andern vorzuſtreben, dich
aber dein Vater, des Peliden Lenker und Freund zu ſeyn,
weil er an Stärke zwar der Größere, am Alter aber hinter
dir ſey. Erzähle davon dem Achilles; vielleicht rührt ihn
auch jetzt deine Zurede.“ So ſprach der Alte und miſchte
liebliche Erinnerungen aus ſeiner eigenen Heldenjugend in
die Rede, ſo daß dem Patroklus das Herz im Buſen be¬
wegt wurde.
Als er auf der Rückkehr an den Schiffen des Odyſ¬
ſeus vorüber eilte, fand er hier den Eurypylus, der, vom
Pfeil in den Schenkel verwundet, mühſam aus der Schlacht
einhergehinkt kam. Es erbarmte den Sohn des Menötius,
wie der wunde Held ihn ſo kläglich anrief, ſeiner mit den
Künſten Chirons des Centauren, die er gewiß durch Achil¬
les gelernt habe, zu pflegen; ſo daß Patroklus endlich den
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/203>, abgerufen am 27.11.2024.
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