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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

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wohlziemend geredet," erwiederte ihm Nestor, "habe ich
doch selbst Völker genug, dazu treffliche Söhne, die dieß
Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängniß der Achiver
ist viel zu groß, als daß ich nicht selbst thun sollte, was
das Herz mir gebietet. Auf der Schwertspitze steht bei
ihnen Untergang und Leben, deswegen erhebe dich und
hilf du selbst uns den Ajax und Meges, den Sohn Phy¬
leus, wecken!" Diomedes warf sogleich sein Löwenfell
um die Schultern und holte die verlangten Helden. Nun
musterten sie zusammen die Schaar der Hüter, aber keinen
fanden sie schlafend, alle saßen munter und wach in ihren
Rüstungen da.

Allmählig waren jetzt alle Fürsten vom Schlaf aufge¬
weckt worden, und bald saß die Rathsversammlung voll¬
ständig beisammen. Nestor aber begann das Gespräch:
"Wie wär' es, ihr Freunde," sagte er, "wenn jetzt ein
Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern,
ob er nicht etwa einen der Aeußersten erhaschen könnte,
oder ihren Rath erlauschen, und erfahren, ob sie hier auf
dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken, oder mit dem
Siege sich in ihre Stadt zurückzuziehen? Edle Gaben
sollten den kühnen Mann belohnen, der solches wagte!"
Als Nestor ausgeredet, stand Diomedes auf und erbot sich
zu dem Wagnisse, falls ein Begleiter sich zu ihm gesellen
wollte. Da fanden sich Viele bereit: die Ajax beide,
Meriones, Antilochus, Menelaus und Odysseus; und
Diomedes sprach: "Wenn ihr mir anheim stellet, den
Genossen selbst zu wählen, wie sollte ich des Odysseus
vergessen, der in jeder Gefahr ein so entschlossenes Herz
zeigt, und den Pallas Athene liebt. Wenn er mich be¬
gleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen

wohlziemend geredet,“ erwiederte ihm Neſtor, „habe ich
doch ſelbſt Völker genug, dazu treffliche Söhne, die dieß
Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängniß der Achiver
iſt viel zu groß, als daß ich nicht ſelbſt thun ſollte, was
das Herz mir gebietet. Auf der Schwertſpitze ſteht bei
ihnen Untergang und Leben, deswegen erhebe dich und
hilf du ſelbſt uns den Ajax und Meges, den Sohn Phy¬
leus, wecken!“ Diomedes warf ſogleich ſein Löwenfell
um die Schultern und holte die verlangten Helden. Nun
muſterten ſie zuſammen die Schaar der Hüter, aber keinen
fanden ſie ſchlafend, alle ſaßen munter und wach in ihren
Rüſtungen da.

Allmählig waren jetzt alle Fürſten vom Schlaf aufge¬
weckt worden, und bald ſaß die Rathsverſammlung voll¬
ſtändig beiſammen. Neſtor aber begann das Geſpräch:
„Wie wär' es, ihr Freunde,“ ſagte er, „wenn jetzt ein
Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern,
ob er nicht etwa einen der Aeußerſten erhaſchen könnte,
oder ihren Rath erlauſchen, und erfahren, ob ſie hier auf
dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken, oder mit dem
Siege ſich in ihre Stadt zurückzuziehen? Edle Gaben
ſollten den kühnen Mann belohnen, der ſolches wagte!“
Als Neſtor ausgeredet, ſtand Diomedes auf und erbot ſich
zu dem Wagniſſe, falls ein Begleiter ſich zu ihm geſellen
wollte. Da fanden ſich Viele bereit: die Ajax beide,
Meriones, Antilochus, Menelaus und Odyſſeus; und
Diomedes ſprach: „Wenn ihr mir anheim ſtellet, den
Genoſſen ſelbſt zu wählen, wie ſollte ich des Odyſſeus
vergeſſen, der in jeder Gefahr ein ſo entſchloſſenes Herz
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[166/0188] wohlziemend geredet,“ erwiederte ihm Neſtor, „habe ich doch ſelbſt Völker genug, dazu treffliche Söhne, die dieß Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängniß der Achiver iſt viel zu groß, als daß ich nicht ſelbſt thun ſollte, was das Herz mir gebietet. Auf der Schwertſpitze ſteht bei ihnen Untergang und Leben, deswegen erhebe dich und hilf du ſelbſt uns den Ajax und Meges, den Sohn Phy¬ leus, wecken!“ Diomedes warf ſogleich ſein Löwenfell um die Schultern und holte die verlangten Helden. Nun muſterten ſie zuſammen die Schaar der Hüter, aber keinen fanden ſie ſchlafend, alle ſaßen munter und wach in ihren Rüſtungen da. Allmählig waren jetzt alle Fürſten vom Schlaf aufge¬ weckt worden, und bald ſaß die Rathsverſammlung voll¬ ſtändig beiſammen. Neſtor aber begann das Geſpräch: „Wie wär' es, ihr Freunde,“ ſagte er, „wenn jetzt ein Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern, ob er nicht etwa einen der Aeußerſten erhaſchen könnte, oder ihren Rath erlauſchen, und erfahren, ob ſie hier auf dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken, oder mit dem Siege ſich in ihre Stadt zurückzuziehen? Edle Gaben ſollten den kühnen Mann belohnen, der ſolches wagte!“ Als Neſtor ausgeredet, ſtand Diomedes auf und erbot ſich zu dem Wagniſſe, falls ein Begleiter ſich zu ihm geſellen wollte. Da fanden ſich Viele bereit: die Ajax beide, Meriones, Antilochus, Menelaus und Odyſſeus; und Diomedes ſprach: „Wenn ihr mir anheim ſtellet, den Genoſſen ſelbſt zu wählen, wie ſollte ich des Odyſſeus vergeſſen, der in jeder Gefahr ein ſo entſchloſſenes Herz zeigt, und den Pallas Athene liebt. Wenn er mich be¬ gleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/188>, abgerufen am 26.11.2024.