voran die Helden mit Roß und Wagen, viele und tapfere Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt. Dazu ermahnte er sie mit weisen Worten: "Wage sich mir keiner mit seinem Streitwagen zu weit vor, weiche mir auch Keiner zurück; stößt Wagen auf Wagen, so strecket die Lanze vor." Wie ihn Agamemnon die Seini¬ gen so ermahnen hörte, rief er ihm zu: "O Greis, möch¬ ten dir die Kniee folgen und deine Leibeskraft ausreichen, wie dir der Muth noch den Busen füllt. Könnte doch ein Anderer dir die Last des Alters abnehmen, daß du zum Jüngling umgeschaffen würdest!" "Wohl möchte ich jetzt der seyn, der ich einst war," antwortete ihm Nestor, "doch haben die Götter den Menschen nicht Alles zugleich ver¬ liehen. Mögen die Jüngeren Speere werfen, ich begleite meine Männer mit Worten und weisem Rathe, den auch das Alter geben kann." Freudig ging Agamemnon an ihm vorüber und stieß jetzt auf Menestheus, den Sohn des Peteus, um den die Athener geschaart waren, und neben welchem die Cephallener in dichten Schlachtreihen unter Odysseus standen. Beider Haufen ruhten in Er¬ wartung und wollten andere Züge voranstürmen lassen. Dieß verdroß den Völkerfürsten und er sprach mürrisch zu ihnen: "Was schmieget ihr euch so zusammen, ihr Bei¬ den, auf Andere harrend? Wenn wir Braten schmausen und Wein trinken, seyd ihr immer die Ersten; nun aber würdet ihr es nicht ungerne sehen, wenn zehn Griechen¬ schaaren vor euch in die Schlacht eindrängen!" Odysseus aber sah ihn finster an und sprach: "Was denkst du, Atride? uns schiltst du saumselig? warte nur, wenn wir einmal losbrechen, ob wir die Wuth der Schlacht nicht gehörig gegen die Troer aufregen, und du mich nicht im
voran die Helden mit Roß und Wagen, viele und tapfere Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt. Dazu ermahnte er ſie mit weiſen Worten: „Wage ſich mir keiner mit ſeinem Streitwagen zu weit vor, weiche mir auch Keiner zurück; ſtößt Wagen auf Wagen, ſo ſtrecket die Lanze vor.“ Wie ihn Agamemnon die Seini¬ gen ſo ermahnen hörte, rief er ihm zu: „O Greis, möch¬ ten dir die Kniee folgen und deine Leibeskraft ausreichen, wie dir der Muth noch den Buſen füllt. Könnte doch ein Anderer dir die Laſt des Alters abnehmen, daß du zum Jüngling umgeſchaffen würdeſt!“ „Wohl möchte ich jetzt der ſeyn, der ich einſt war,“ antwortete ihm Neſtor, „doch haben die Götter den Menſchen nicht Alles zugleich ver¬ liehen. Mögen die Jüngeren Speere werfen, ich begleite meine Männer mit Worten und weiſem Rathe, den auch das Alter geben kann.“ Freudig ging Agamemnon an ihm vorüber und ſtieß jetzt auf Meneſtheus, den Sohn des Peteus, um den die Athener geſchaart waren, und neben welchem die Cephallener in dichten Schlachtreihen unter Odyſſeus ſtanden. Beider Haufen ruhten in Er¬ wartung und wollten andere Züge voranſtürmen laſſen. Dieß verdroß den Völkerfürſten und er ſprach mürriſch zu ihnen: „Was ſchmieget ihr euch ſo zuſammen, ihr Bei¬ den, auf Andere harrend? Wenn wir Braten ſchmauſen und Wein trinken, ſeyd ihr immer die Erſten; nun aber würdet ihr es nicht ungerne ſehen, wenn zehn Griechen¬ ſchaaren vor euch in die Schlacht eindrängen!“ Odyſſeus aber ſah ihn finſter an und ſprach: „Was denkſt du, Atride? uns ſchiltſt du ſaumſelig? warte nur, wenn wir einmal losbrechen, ob wir die Wuth der Schlacht nicht gehörig gegen die Troer aufregen, und du mich nicht im
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voran die Helden mit Roß und Wagen, viele und tapfere
Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt.
Dazu ermahnte er ſie mit weiſen Worten: „Wage ſich
mir keiner mit ſeinem Streitwagen zu weit vor, weiche
mir auch Keiner zurück; ſtößt Wagen auf Wagen, ſo
ſtrecket die Lanze vor.“ Wie ihn Agamemnon die Seini¬
gen ſo ermahnen hörte, rief er ihm zu: „O Greis, möch¬
ten dir die Kniee folgen und deine Leibeskraft ausreichen,
wie dir der Muth noch den Buſen füllt. Könnte doch ein
Anderer dir die Laſt des Alters abnehmen, daß du zum
Jüngling umgeſchaffen würdeſt!“ „Wohl möchte ich jetzt
der ſeyn, der ich einſt war,“ antwortete ihm Neſtor, „doch
haben die Götter den Menſchen nicht Alles zugleich ver¬
liehen. Mögen die Jüngeren Speere werfen, ich begleite
meine Männer mit Worten und weiſem Rathe, den auch
das Alter geben kann.“ Freudig ging Agamemnon an
ihm vorüber und ſtieß jetzt auf Meneſtheus, den Sohn
des Peteus, um den die Athener geſchaart waren, und
neben welchem die Cephallener in dichten Schlachtreihen
unter Odyſſeus ſtanden. Beider Haufen ruhten in Er¬
wartung und wollten andere Züge voranſtürmen laſſen.
Dieß verdroß den Völkerfürſten und er ſprach mürriſch
zu ihnen: „Was ſchmieget ihr euch ſo zuſammen, ihr Bei¬
den, auf Andere harrend? Wenn wir Braten ſchmauſen
und Wein trinken, ſeyd ihr immer die Erſten; nun aber
würdet ihr es nicht ungerne ſehen, wenn zehn Griechen¬
ſchaaren vor euch in die Schlacht eindrängen!“ Odyſſeus
aber ſah ihn finſter an und ſprach: „Was denkſt du,
Atride? uns ſchiltſt du ſaumſelig? warte nur, wenn wir
einmal losbrechen, ob wir die Wuth der Schlacht nicht
gehörig gegen die Troer aufregen, und du mich nicht im
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/138>, abgerufen am 25.11.2024.
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