Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Spitzkopf, dessen Scheitel nur mit dünner Wolle spärlich
besäet war. Besonders war der Haderer dem Peliden und
Odysseus verhaßt, denn gegen diese Helden lästerte er
unaufhörlich. Dießmal aber kreischte er seine Schmähun¬
gen dem Völkerfürsten Agamemnon entgegen: "Was hast
du zu klagen, Atride," schrie er; "wessen bedarfst du denn?
Ist nicht dein Zelt voll von edlem Erz, und voll von
Weibern? Du lässest es dir wohl seyn, und wir sollen
uns von dir in allen Jammer hineinführen lassen? Viel
besser thun wir, auf den Schiffen heimzusegeln, und diesen
hier allein vor Troja sich mit Ehrengeschenken mästen zu
lassen! Hat er doch jetzt selbst den mächtigen Achilles ver¬
unehrt und vorenthält ihm seine Ehrengabe. Aber der
träge Pelide hat keine Galle in der Leber, sonst hätte der
Tyrann heute zum letzten Male gefrevelt!"

Während Thersites so schalt, stellte sich Odysseus
neben ihn und maß ihn mit finsterem Blick, dann hub er
sein Scepter, bläute ihm Rücken und Schultern und rief:
"Find' ich dich noch einmal im Wahnsinne toben, wie
jetzt, du Schuft! so soll mein Haupt nicht auf meinen
Schultern stehen, und Telemachus nicht mein Sohn seyn,
wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom
Leibe ziehe, und dich mit Geißelhieben gestäupt nackt zu
den Schiffen sende!" Thersites krümmte sich unter den
Streichen des Helden mit blutigen Striemen auf Schulter
und Nacken, und lief dann tobend vor Schmerz und heu¬
lend vor Wuth von dannen. Im Volk aber stieß ein
Nachbar den andern lachend an, und freute sich darüber,
daß der ekelhafte Mensch die verdiente Strafe erhielt.

Jetzt aber trat der Held Odysseus vor das Volk;
neben ihm Pallas Athene, welche die Gestalt eines Herolds

Schwab, das klass. Alterthum. II. 7

Spitzkopf, deſſen Scheitel nur mit dünner Wolle ſpärlich
beſäet war. Beſonders war der Haderer dem Peliden und
Odyſſeus verhaßt, denn gegen dieſe Helden läſterte er
unaufhörlich. Dießmal aber kreiſchte er ſeine Schmähun¬
gen dem Völkerfürſten Agamemnon entgegen: „Was haſt
du zu klagen, Atride,“ ſchrie er; „weſſen bedarfſt du denn?
Iſt nicht dein Zelt voll von edlem Erz, und voll von
Weibern? Du läſſeſt es dir wohl ſeyn, und wir ſollen
uns von dir in allen Jammer hineinführen laſſen? Viel
beſſer thun wir, auf den Schiffen heimzuſegeln, und dieſen
hier allein vor Troja ſich mit Ehrengeſchenken mäſten zu
laſſen! Hat er doch jetzt ſelbſt den mächtigen Achilles ver¬
unehrt und vorenthält ihm ſeine Ehrengabe. Aber der
träge Pelide hat keine Galle in der Leber, ſonſt hätte der
Tyrann heute zum letzten Male gefrevelt!“

Während Therſites ſo ſchalt, ſtellte ſich Odyſſeus
neben ihn und maß ihn mit finſterem Blick, dann hub er
ſein Scepter, bläute ihm Rücken und Schultern und rief:
„Find' ich dich noch einmal im Wahnſinne toben, wie
jetzt, du Schuft! ſo ſoll mein Haupt nicht auf meinen
Schultern ſtehen, und Telemachus nicht mein Sohn ſeyn,
wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom
Leibe ziehe, und dich mit Geißelhieben geſtäupt nackt zu
den Schiffen ſende!“ Therſites krümmte ſich unter den
Streichen des Helden mit blutigen Striemen auf Schulter
und Nacken, und lief dann tobend vor Schmerz und heu¬
lend vor Wuth von dannen. Im Volk aber ſtieß ein
Nachbar den andern lachend an, und freute ſich darüber,
daß der ekelhafte Menſch die verdiente Strafe erhielt.

Jetzt aber trat der Held Odyſſeus vor das Volk;
neben ihm Pallas Athene, welche die Geſtalt eines Herolds

Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 7
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0119" n="97"/>
Spitzkopf, de&#x017F;&#x017F;en Scheitel nur mit dünner Wolle &#x017F;pärlich<lb/>
be&#x017F;äet war. Be&#x017F;onders war der Haderer dem Peliden und<lb/>
Ody&#x017F;&#x017F;eus verhaßt, denn gegen die&#x017F;e Helden lä&#x017F;terte er<lb/>
unaufhörlich. Dießmal aber krei&#x017F;chte er &#x017F;eine Schmähun¬<lb/>
gen dem Völkerfür&#x017F;ten Agamemnon entgegen: &#x201E;Was ha&#x017F;t<lb/>
du zu klagen, Atride,&#x201C; &#x017F;chrie er; &#x201E;we&#x017F;&#x017F;en bedarf&#x017F;t du denn?<lb/>
I&#x017F;t nicht dein Zelt voll von edlem Erz, und voll von<lb/>
Weibern? Du lä&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t es dir wohl &#x017F;eyn, und wir &#x017F;ollen<lb/>
uns von dir in allen Jammer hineinführen la&#x017F;&#x017F;en? Viel<lb/>
be&#x017F;&#x017F;er thun wir, auf den Schiffen heimzu&#x017F;egeln, und die&#x017F;en<lb/>
hier allein vor Troja &#x017F;ich mit Ehrenge&#x017F;chenken mä&#x017F;ten zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en! Hat er doch jetzt &#x017F;elb&#x017F;t den mächtigen Achilles ver¬<lb/>
unehrt und vorenthält ihm &#x017F;eine Ehrengabe. Aber der<lb/>
träge Pelide hat keine Galle in der Leber, &#x017F;on&#x017F;t hätte der<lb/>
Tyrann heute zum letzten Male gefrevelt!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Während Ther&#x017F;ites &#x017F;o &#x017F;chalt, &#x017F;tellte &#x017F;ich Ody&#x017F;&#x017F;eus<lb/>
neben ihn und maß ihn mit fin&#x017F;terem Blick, dann hub er<lb/>
&#x017F;ein Scepter, bläute ihm Rücken und Schultern und rief:<lb/>
&#x201E;Find' ich dich noch einmal im Wahn&#x017F;inne toben, wie<lb/>
jetzt, du Schuft! &#x017F;o &#x017F;oll mein Haupt nicht auf meinen<lb/>
Schultern &#x017F;tehen, und Telemachus nicht mein Sohn &#x017F;eyn,<lb/>
wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom<lb/>
Leibe ziehe, und dich mit Geißelhieben ge&#x017F;täupt nackt zu<lb/>
den Schiffen &#x017F;ende!&#x201C; Ther&#x017F;ites krümmte &#x017F;ich unter den<lb/>
Streichen des Helden mit blutigen Striemen auf Schulter<lb/>
und Nacken, und lief dann tobend vor Schmerz und heu¬<lb/>
lend vor Wuth von dannen. Im Volk aber &#x017F;tieß ein<lb/>
Nachbar den andern lachend an, und freute &#x017F;ich darüber,<lb/>
daß der ekelhafte Men&#x017F;ch die verdiente Strafe erhielt.</p><lb/>
          <p>Jetzt aber trat der Held Ody&#x017F;&#x017F;eus vor das Volk;<lb/>
neben ihm Pallas Athene, welche die Ge&#x017F;talt eines Herolds<lb/>
<fw type="sig" place="bottom"><hi rendition="#g">Schwab</hi>, das kla&#x017F;&#x017F;. Alterthum. <hi rendition="#aq">II</hi>. 7<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[97/0119] Spitzkopf, deſſen Scheitel nur mit dünner Wolle ſpärlich beſäet war. Beſonders war der Haderer dem Peliden und Odyſſeus verhaßt, denn gegen dieſe Helden läſterte er unaufhörlich. Dießmal aber kreiſchte er ſeine Schmähun¬ gen dem Völkerfürſten Agamemnon entgegen: „Was haſt du zu klagen, Atride,“ ſchrie er; „weſſen bedarfſt du denn? Iſt nicht dein Zelt voll von edlem Erz, und voll von Weibern? Du läſſeſt es dir wohl ſeyn, und wir ſollen uns von dir in allen Jammer hineinführen laſſen? Viel beſſer thun wir, auf den Schiffen heimzuſegeln, und dieſen hier allein vor Troja ſich mit Ehrengeſchenken mäſten zu laſſen! Hat er doch jetzt ſelbſt den mächtigen Achilles ver¬ unehrt und vorenthält ihm ſeine Ehrengabe. Aber der träge Pelide hat keine Galle in der Leber, ſonſt hätte der Tyrann heute zum letzten Male gefrevelt!“ Während Therſites ſo ſchalt, ſtellte ſich Odyſſeus neben ihn und maß ihn mit finſterem Blick, dann hub er ſein Scepter, bläute ihm Rücken und Schultern und rief: „Find' ich dich noch einmal im Wahnſinne toben, wie jetzt, du Schuft! ſo ſoll mein Haupt nicht auf meinen Schultern ſtehen, und Telemachus nicht mein Sohn ſeyn, wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom Leibe ziehe, und dich mit Geißelhieben geſtäupt nackt zu den Schiffen ſende!“ Therſites krümmte ſich unter den Streichen des Helden mit blutigen Striemen auf Schulter und Nacken, und lief dann tobend vor Schmerz und heu¬ lend vor Wuth von dannen. Im Volk aber ſtieß ein Nachbar den andern lachend an, und freute ſich darüber, daß der ekelhafte Menſch die verdiente Strafe erhielt. Jetzt aber trat der Held Odyſſeus vor das Volk; neben ihm Pallas Athene, welche die Geſtalt eines Herolds Schwab, das klaſſ. Alterthum. II. 7

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/119
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/119>, abgerufen am 24.11.2024.