kluger Odysseus! Eilig dich ins Heer der Danaer geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredsamkeit, ermahne, hemme sie." Auf den Ruf der Göttin warf Odysseus schnell seinen Mantel weg, den Eurybates, sein Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürsten und edlern Männer, so hielt er ihn mit freundlichen Worten an und sprach ihm zu: "Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu verzagen wie ein Feigling? Du solltest vielmehr ruhig bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißest du doch nicht, wie der Atride wirklich im Herzen gesinnt ist, und ob er die Griechen nicht hat versuchen wollen!" Wenn er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und schreiend antraf, den schlug er mit seinem Scepter und bedrohte ihn mit lauter Stimme: "Elender, rühre dich nicht; hör' du, was Andre sagen, du, den man weder im Kampf, noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch nicht alle Könige seyn! Vielherrschaft ist nichts nütze, nur Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und diesem sollen die Andern gehorchen!"
So ließ Odysseus seine herrschende Stimme durchs Heer erschallen, und bewog endlich das Volk von den Schiffen auf den Versammlungsplatz zurückzuströmen. All¬ mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war Thersites, der sich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬ worten gegen die Fürsten vernehmen ließ. Dieser war der häßlichste Mann, der aus Griechenland mit vor Troja gekommen war; er schielte mit dem einen Auge und war lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem Rücken, die Schultern gegen die Brust eingeengt, einen
kluger Odyſſeus! Eilig dich ins Heer der Danaer geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredſamkeit, ermahne, hemme ſie.“ Auf den Ruf der Göttin warf Odyſſeus ſchnell ſeinen Mantel weg, den Eurybates, ſein Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürſten und edlern Männer, ſo hielt er ihn mit freundlichen Worten an und ſprach ihm zu: „Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu verzagen wie ein Feigling? Du ſollteſt vielmehr ruhig bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißeſt du doch nicht, wie der Atride wirklich im Herzen geſinnt iſt, und ob er die Griechen nicht hat verſuchen wollen!“ Wenn er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und ſchreiend antraf, den ſchlug er mit ſeinem Scepter und bedrohte ihn mit lauter Stimme: „Elender, rühre dich nicht; hör' du, was Andre ſagen, du, den man weder im Kampf, noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch nicht alle Könige ſeyn! Vielherrſchaft iſt nichts nütze, nur Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und dieſem ſollen die Andern gehorchen!“
So ließ Odyſſeus ſeine herrſchende Stimme durchs Heer erſchallen, und bewog endlich das Volk von den Schiffen auf den Verſammlungsplatz zurückzuſtrömen. All¬ mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war Therſites, der ſich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬ worten gegen die Fürſten vernehmen ließ. Dieſer war der häßlichſte Mann, der aus Griechenland mit vor Troja gekommen war; er ſchielte mit dem einen Auge und war lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem Rücken, die Schultern gegen die Bruſt eingeengt, einen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0118"n="96"/>
kluger Odyſſeus! Eilig dich ins Heer der Danaer<lb/>
geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredſamkeit,<lb/>
ermahne, hemme ſie.“ Auf den Ruf der Göttin warf<lb/>
Odyſſeus ſchnell ſeinen Mantel weg, den Eurybates, ſein<lb/>
Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter<lb/>
das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürſten und edlern<lb/>
Männer, ſo hielt er ihn mit freundlichen Worten an und<lb/>ſprach ihm zu: „Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu<lb/>
verzagen wie ein Feigling? Du ſollteſt vielmehr ruhig<lb/>
bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißeſt du doch<lb/>
nicht, wie der Atride wirklich im Herzen geſinnt iſt, und<lb/>
ob er die Griechen nicht hat verſuchen wollen!“ Wenn<lb/>
er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und ſchreiend<lb/>
antraf, den ſchlug er mit ſeinem Scepter und bedrohte<lb/>
ihn mit lauter Stimme: „Elender, rühre dich nicht; hör'<lb/>
du, was Andre ſagen, du, den man weder im Kampf,<lb/>
noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch<lb/>
nicht alle Könige ſeyn! Vielherrſchaft iſt nichts nütze, nur<lb/>
Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und dieſem<lb/>ſollen die Andern gehorchen!“</p><lb/><p>So ließ Odyſſeus ſeine herrſchende Stimme durchs<lb/>
Heer erſchallen, und bewog endlich das Volk von den<lb/>
Schiffen auf den Verſammlungsplatz zurückzuſtrömen. All¬<lb/>
mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den<lb/>
Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war<lb/>
Therſites, der ſich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬<lb/>
worten gegen die Fürſten vernehmen ließ. Dieſer war<lb/>
der häßlichſte Mann, der aus Griechenland mit vor Troja<lb/>
gekommen war; er ſchielte mit dem einen Auge und war<lb/>
lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem<lb/>
Rücken, die Schultern gegen die Bruſt eingeengt, einen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[96/0118]
kluger Odyſſeus! Eilig dich ins Heer der Danaer
geworfen, nicht gezaudert! brauche deiner Beredſamkeit,
ermahne, hemme ſie.“ Auf den Ruf der Göttin warf
Odyſſeus ſchnell ſeinen Mantel weg, den Eurybates, ſein
Herold, der ihm gefolgt war, aufnahm, und eilte unter
das Volk. Stieß er nun auf einen der Fürſten und edlern
Männer, ſo hielt er ihn mit freundlichen Worten an und
ſprach ihm zu: „Ziemt es dir auch, mein Trefflicher, zu
verzagen wie ein Feigling? Du ſollteſt vielmehr ruhig
bleiben und auch die Andern beruhigen. Weißeſt du doch
nicht, wie der Atride wirklich im Herzen geſinnt iſt, und
ob er die Griechen nicht hat verſuchen wollen!“ Wenn
er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und ſchreiend
antraf, den ſchlug er mit ſeinem Scepter und bedrohte
ihn mit lauter Stimme: „Elender, rühre dich nicht; hör'
du, was Andre ſagen, du, den man weder im Kampf,
noch im Rathe rechnen kann! Wir Griechen können doch
nicht alle Könige ſeyn! Vielherrſchaft iſt nichts nütze, nur
Einem hat Jupiter den Scepter verliehen, und dieſem
ſollen die Andern gehorchen!“
So ließ Odyſſeus ſeine herrſchende Stimme durchs
Heer erſchallen, und bewog endlich das Volk von den
Schiffen auf den Verſammlungsplatz zurückzuſtrömen. All¬
mählich wurde alles ruhig und verharrte geduldig auf den
Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war
Therſites, der ſich, wie gewöhnlich, mit fordernden Schelt¬
worten gegen die Fürſten vernehmen ließ. Dieſer war
der häßlichſte Mann, der aus Griechenland mit vor Troja
gekommen war; er ſchielte mit dem einen Auge und war
lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem
Rücken, die Schultern gegen die Bruſt eingeengt, einen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/118>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.