Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

widerstrebend folgte, denn sie hatte ihren milden Herrn lieb
gewonnen. Achilles aber setzte sich weinend an den Strand,
schaute hinunter in die dunkle Meerfluth und flehte seine
Mutter Thetis um Hülfe an. Da ertönte ihre Stimme
aus der Tiefe: "Wehe mir, mein Kind, daß ich dich gebar;
so kurz, so gar kurz währet dein Leben; und nun sollst du
auch noch so viel Thränen und Kränkung erfahren! Aber
ich selbst gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich
um Hülfe. Zwar ist er gestern zum Mahle der frommen
Aethiopier an den Strand des Oceanus gegangen, und
erst nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber
eile ich hinauf zu ihm und umfasse ihm die Kniee. So
lange setze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern
und enthalte dich des Krieges." Achilles verließ, mit der
Antwort seiner Mutter im Herzen, den Strand und setzte
sich grollend, mit verschlungenen Armen, in seinem Zelte nieder.

Inzwischen war Odysseus mit dem Schiffe zu Chrysa
angekommen und übergab dem freudig überraschten Vater
sein holdseliges Kind. Dankbar hob Chryses seine Hände
gen Himmel und flehte zu Phöbus um Abwendung der
Plage, die er den Griechen zugesandt, und in diesem Au¬
genblicke hörte die Pest unter dem griechischen Heere auf,
und als Odysseus mit dem Schiffe ins Lager der Griechen
zurückkam, fand er diese des Uebels ledig.

Der zwölfte Tag, seit Achilles sich in seine Lager¬
stätte zurückgezogen hatte, war angebrochen und Thetis hatte
ihr Versprechen nicht vergessen. Im frühsten Morgennebel
tauchte sie aus dem Meere und stieg empor zum Olymp.
Hier fand sie auf der höchsten Kuppe des gezackten Ber¬
ges, abseits von den andern Göttern, den waltenden Ju¬
piter gelagert, setzte sich zu ihm, und mit der Linken seine

widerſtrebend folgte, denn ſie hatte ihren milden Herrn lieb
gewonnen. Achilles aber ſetzte ſich weinend an den Strand,
ſchaute hinunter in die dunkle Meerfluth und flehte ſeine
Mutter Thetis um Hülfe an. Da ertönte ihre Stimme
aus der Tiefe: „Wehe mir, mein Kind, daß ich dich gebar;
ſo kurz, ſo gar kurz währet dein Leben; und nun ſollſt du
auch noch ſo viel Thränen und Kränkung erfahren! Aber
ich ſelbſt gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich
um Hülfe. Zwar iſt er geſtern zum Mahle der frommen
Aethiopier an den Strand des Oceanus gegangen, und
erſt nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber
eile ich hinauf zu ihm und umfaſſe ihm die Kniee. So
lange ſetze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern
und enthalte dich des Krieges.“ Achilles verließ, mit der
Antwort ſeiner Mutter im Herzen, den Strand und ſetzte
ſich grollend, mit verſchlungenen Armen, in ſeinem Zelte nieder.

Inzwiſchen war Odyſſeus mit dem Schiffe zu Chryſa
angekommen und übergab dem freudig überraſchten Vater
ſein holdſeliges Kind. Dankbar hob Chryſes ſeine Hände
gen Himmel und flehte zu Phöbus um Abwendung der
Plage, die er den Griechen zugeſandt, und in dieſem Au¬
genblicke hörte die Peſt unter dem griechiſchen Heere auf,
und als Odyſſeus mit dem Schiffe ins Lager der Griechen
zurückkam, fand er dieſe des Uebels ledig.

Der zwölfte Tag, ſeit Achilles ſich in ſeine Lager¬
ſtätte zurückgezogen hatte, war angebrochen und Thetis hatte
ihr Verſprechen nicht vergeſſen. Im frühſten Morgennebel
tauchte ſie aus dem Meere und ſtieg empor zum Olymp.
Hier fand ſie auf der höchſten Kuppe des gezackten Ber¬
ges, abſeits von den andern Göttern, den waltenden Ju¬
piter gelagert, ſetzte ſich zu ihm, und mit der Linken ſeine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0113" n="91"/>
wider&#x017F;trebend folgte, denn &#x017F;ie hatte ihren milden Herrn lieb<lb/>
gewonnen. Achilles aber &#x017F;etzte &#x017F;ich weinend an den Strand,<lb/>
&#x017F;chaute hinunter in die dunkle Meerfluth und flehte &#x017F;eine<lb/>
Mutter Thetis um Hülfe an. Da ertönte ihre Stimme<lb/>
aus der Tiefe: &#x201E;Wehe mir, mein Kind, daß ich dich gebar;<lb/>
&#x017F;o kurz, &#x017F;o gar kurz währet dein Leben; und nun &#x017F;oll&#x017F;t du<lb/>
auch noch &#x017F;o viel Thränen und Kränkung erfahren! Aber<lb/>
ich &#x017F;elb&#x017F;t gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich<lb/>
um Hülfe. Zwar i&#x017F;t er ge&#x017F;tern zum Mahle der frommen<lb/>
Aethiopier an den Strand des Oceanus gegangen, und<lb/>
er&#x017F;t nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber<lb/>
eile ich hinauf zu ihm und umfa&#x017F;&#x017F;e ihm die Kniee. So<lb/>
lange &#x017F;etze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern<lb/>
und enthalte dich des Krieges.&#x201C; Achilles verließ, mit der<lb/>
Antwort &#x017F;einer Mutter im Herzen, den Strand und &#x017F;etzte<lb/>
&#x017F;ich grollend, mit ver&#x017F;chlungenen Armen, in &#x017F;einem Zelte nieder.</p><lb/>
          <p>Inzwi&#x017F;chen war Ody&#x017F;&#x017F;eus mit dem Schiffe zu Chry&#x017F;a<lb/>
angekommen und übergab dem freudig überra&#x017F;chten Vater<lb/>
&#x017F;ein hold&#x017F;eliges Kind. Dankbar hob Chry&#x017F;es &#x017F;eine Hände<lb/>
gen Himmel und flehte zu Phöbus um Abwendung der<lb/>
Plage, die er den Griechen zuge&#x017F;andt, und in die&#x017F;em Au¬<lb/>
genblicke hörte die Pe&#x017F;t unter dem griechi&#x017F;chen Heere auf,<lb/>
und als Ody&#x017F;&#x017F;eus mit dem Schiffe ins Lager der Griechen<lb/>
zurückkam, fand er die&#x017F;e des Uebels ledig.</p><lb/>
          <p>Der zwölfte Tag, &#x017F;eit Achilles &#x017F;ich in &#x017F;eine Lager¬<lb/>
&#x017F;tätte zurückgezogen hatte, war angebrochen und Thetis hatte<lb/>
ihr Ver&#x017F;prechen nicht verge&#x017F;&#x017F;en. Im früh&#x017F;ten Morgennebel<lb/>
tauchte &#x017F;ie aus dem Meere und &#x017F;tieg empor zum Olymp.<lb/>
Hier fand &#x017F;ie auf der höch&#x017F;ten Kuppe des gezackten Ber¬<lb/>
ges, ab&#x017F;eits von den andern Göttern, den waltenden Ju¬<lb/>
piter gelagert, &#x017F;etzte &#x017F;ich zu ihm, und mit der Linken &#x017F;eine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0113] widerſtrebend folgte, denn ſie hatte ihren milden Herrn lieb gewonnen. Achilles aber ſetzte ſich weinend an den Strand, ſchaute hinunter in die dunkle Meerfluth und flehte ſeine Mutter Thetis um Hülfe an. Da ertönte ihre Stimme aus der Tiefe: „Wehe mir, mein Kind, daß ich dich gebar; ſo kurz, ſo gar kurz währet dein Leben; und nun ſollſt du auch noch ſo viel Thränen und Kränkung erfahren! Aber ich ſelbſt gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich um Hülfe. Zwar iſt er geſtern zum Mahle der frommen Aethiopier an den Strand des Oceanus gegangen, und erſt nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber eile ich hinauf zu ihm und umfaſſe ihm die Kniee. So lange ſetze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern und enthalte dich des Krieges.“ Achilles verließ, mit der Antwort ſeiner Mutter im Herzen, den Strand und ſetzte ſich grollend, mit verſchlungenen Armen, in ſeinem Zelte nieder. Inzwiſchen war Odyſſeus mit dem Schiffe zu Chryſa angekommen und übergab dem freudig überraſchten Vater ſein holdſeliges Kind. Dankbar hob Chryſes ſeine Hände gen Himmel und flehte zu Phöbus um Abwendung der Plage, die er den Griechen zugeſandt, und in dieſem Au¬ genblicke hörte die Peſt unter dem griechiſchen Heere auf, und als Odyſſeus mit dem Schiffe ins Lager der Griechen zurückkam, fand er dieſe des Uebels ledig. Der zwölfte Tag, ſeit Achilles ſich in ſeine Lager¬ ſtätte zurückgezogen hatte, war angebrochen und Thetis hatte ihr Verſprechen nicht vergeſſen. Im frühſten Morgennebel tauchte ſie aus dem Meere und ſtieg empor zum Olymp. Hier fand ſie auf der höchſten Kuppe des gezackten Ber¬ ges, abſeits von den andern Göttern, den waltenden Ju¬ piter gelagert, ſetzte ſich zu ihm, und mit der Linken ſeine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/113
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 2. Stuttgart, 1839, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen02_1839/113>, abgerufen am 22.11.2024.