Herolds, "die Sache richtig ansehen und den Streit ent¬ scheiden können, ehe ich beide Parteien angehört habe. Darum sprich du, Führer dieser Jünglinge, was hast du für dein Recht zu sagen?" Jolaus, an den diese Worte gerichtet waren, erhob sich von den Stufen des Altares, neigte sich ehrerbietig vor dem Könige und hub an: "Kö¬ nig, nun erfahre ich zum erstenmale, daß ich in einer freien Stadt bin: denn hier gilt reden lassen und anhö¬ ren ; anderswo aber bin ich mit meinen Schützlingen ver¬ stoßen worden, ohne daß mir Gehör geschenkt worden wäre. Nun höre mich. Eurystheus hat uns aus Argos vertrieben; keine Stunde hätten wir länger in seinem Lande verweilen dürfen. Wie kann er nun uns noch Unterthanen heißen, noch, als auf Argiver, auf mich und diese An¬ spruch machen, die er aller Unterthanenrechte und dieses Namens selbst beraubt hat? Es müßte denn derjenige, der aus Argos geflohen ist, auch ganz Griechenland mei¬ den müssen! Nein, wenigstens Athen nicht! Die Einwoh¬ ner dieser heldenmüthigen Stadt werden die Söhne des Herkules nicht aus ihrem Lande jagen. Ihr König wird die Schutzflehenden nicht vom Altare der Götter reissen lassen. Seyd getrost, meine Kinder, wir sind im Lande der Freiheit, ja noch mehr, wir sind bei Verwandten angekommen. Denn wisse, König dieses Landes, daß du keine Fremd¬ linge beherbergst. Dein Vater Theseus, und Herkules, der Vater dieser verfolgten Söhne, waren beide Urenkel des Pelops. Noch mehr, sie beide waren Waffenbrüder; ja, der Vater dieser Kinder hat deinen Vater aus der Unterwelt erlöst." Als Jolaus so gesprochen, umfaßte er die Kniee des Königes, ergriff seine Hand und sein Kinn, und gebärdete sich in Allem, wie im Alterthum ein
Herolds, „die Sache richtig anſehen und den Streit ent¬ ſcheiden können, ehe ich beide Parteien angehört habe. Darum ſprich du, Führer dieſer Jünglinge, was haſt du für dein Recht zu ſagen?“ Jolaus, an den dieſe Worte gerichtet waren, erhob ſich von den Stufen des Altares, neigte ſich ehrerbietig vor dem Könige und hub an: „Kö¬ nig, nun erfahre ich zum erſtenmale, daß ich in einer freien Stadt bin: denn hier gilt reden laſſen und anhö¬ ren ; anderswo aber bin ich mit meinen Schützlingen ver¬ ſtoßen worden, ohne daß mir Gehör geſchenkt worden wäre. Nun höre mich. Euryſtheus hat uns aus Argos vertrieben; keine Stunde hätten wir länger in ſeinem Lande verweilen dürfen. Wie kann er nun uns noch Unterthanen heißen, noch, als auf Argiver, auf mich und dieſe An¬ ſpruch machen, die er aller Unterthanenrechte und dieſes Namens ſelbſt beraubt hat? Es müßte denn derjenige, der aus Argos geflohen iſt, auch ganz Griechenland mei¬ den müſſen! Nein, wenigſtens Athen nicht! Die Einwoh¬ ner dieſer heldenmüthigen Stadt werden die Söhne des Herkules nicht aus ihrem Lande jagen. Ihr König wird die Schutzflehenden nicht vom Altare der Götter reiſſen laſſen. Seyd getroſt, meine Kinder, wir ſind im Lande der Freiheit, ja noch mehr, wir ſind bei Verwandten angekommen. Denn wiſſe, König dieſes Landes, daß du keine Fremd¬ linge beherbergſt. Dein Vater Theſeus, und Herkules, der Vater dieſer verfolgten Söhne, waren beide Urenkel des Pelops. Noch mehr, ſie beide waren Waffenbrüder; ja, der Vater dieſer Kinder hat deinen Vater aus der Unterwelt erlöst." Als Jolaus ſo geſprochen, umfaßte er die Kniee des Königes, ergriff ſeine Hand und ſein Kinn, und gebärdete ſich in Allem, wie im Alterthum ein
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Herolds, „die Sache richtig anſehen und den Streit ent¬
ſcheiden können, ehe ich beide Parteien angehört habe.
Darum ſprich du, Führer dieſer Jünglinge, was haſt du
für dein Recht zu ſagen?“ Jolaus, an den dieſe Worte
gerichtet waren, erhob ſich von den Stufen des Altares,
neigte ſich ehrerbietig vor dem Könige und hub an: „Kö¬
nig, nun erfahre ich zum erſtenmale, daß ich in einer
freien Stadt bin: denn hier gilt reden laſſen und anhö¬
ren ; anderswo aber bin ich mit meinen Schützlingen ver¬
ſtoßen worden, ohne daß mir Gehör geſchenkt worden
wäre. Nun höre mich. Euryſtheus hat uns aus Argos
vertrieben; keine Stunde hätten wir länger in ſeinem Lande
verweilen dürfen. Wie kann er nun uns noch Unterthanen
heißen, noch, als auf Argiver, auf mich und dieſe An¬
ſpruch machen, die er aller Unterthanenrechte und dieſes
Namens ſelbſt beraubt hat? Es müßte denn derjenige,
der aus Argos geflohen iſt, auch ganz Griechenland mei¬
den müſſen! Nein, wenigſtens Athen nicht! Die Einwoh¬
ner dieſer heldenmüthigen Stadt werden die Söhne des
Herkules nicht aus ihrem Lande jagen. Ihr König wird
die Schutzflehenden nicht vom Altare der Götter reiſſen laſſen.
Seyd getroſt, meine Kinder, wir ſind im Lande der Freiheit,
ja noch mehr, wir ſind bei Verwandten angekommen.
Denn wiſſe, König dieſes Landes, daß du keine Fremd¬
linge beherbergſt. Dein Vater Theſeus, und Herkules,
der Vater dieſer verfolgten Söhne, waren beide Urenkel
des Pelops. Noch mehr, ſie beide waren Waffenbrüder;
ja, der Vater dieſer Kinder hat deinen Vater aus der
Unterwelt erlöst." Als Jolaus ſo geſprochen, umfaßte
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/415>, abgerufen am 22.11.2024.
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