Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr
euren abgelebten Aeltern den Dank für ihre Pflege nicht
erstatten wollet? Ueberall gilt nur das Faustrecht; auf
Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander. Nicht der¬
jenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der ge¬
recht und gut ist; nein, nur den Uebelthäter, den schnö¬
den Frevler ehren sie; Recht und Mäßigung gilt nichts
mehr, der Böse darf den Edleren verletzen, trügerische,
krumme Worte sprechen, falsches beschwören. Deßwegen
sind diese Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe,
mißlautige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen mit
dem neidischen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der
Scham und der heiligen Scheu, welche sich bisher doch
noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen trau¬
rig ihren schönen Leib in das weiße Gewand, und ver¬
lassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung
der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den sterblichen
Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und
keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten."


denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr
euren abgelebten Aeltern den Dank für ihre Pflege nicht
erſtatten wollet? Ueberall gilt nur das Fauſtrecht; auf
Städteverwüſtung ſinnen ſie gegeneinander. Nicht der¬
jenige wird begünſtigt, der die Wahrheit ſchwört, der ge¬
recht und gut iſt; nein, nur den Uebelthäter, den ſchnö¬
den Frevler ehren ſie; Recht und Mäßigung gilt nichts
mehr, der Böſe darf den Edleren verletzen, trügeriſche,
krumme Worte ſprechen, falſches beſchwören. Deßwegen
ſind dieſe Menſchen auch ſo unglücklich. Schadenfrohe,
mißlautige Scheelſucht verfolgt ſie und grollt ihnen mit
dem neidiſchen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der
Scham und der heiligen Scheu, welche ſich bisher doch
noch auf der Erde hatten blicken laſſen, verhüllen trau¬
rig ihren ſchönen Leib in das weiße Gewand, und ver¬
laſſen die Menſchen, um ſich wieder in die Verſammlung
der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den ſterblichen
Menſchen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und
keine Rettung von dieſem Unheil iſt zu erwarten.“


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0040" n="14"/>
denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr<lb/>
euren abgelebten Aeltern den Dank für ihre Pflege nicht<lb/>
er&#x017F;tatten wollet? Ueberall gilt nur das Fau&#x017F;trecht; auf<lb/>
Städteverwü&#x017F;tung &#x017F;innen &#x017F;ie gegeneinander. Nicht der¬<lb/>
jenige wird begün&#x017F;tigt, der die Wahrheit &#x017F;chwört, der ge¬<lb/>
recht und gut i&#x017F;t; nein, nur den Uebelthäter, den &#x017F;chnö¬<lb/>
den Frevler ehren &#x017F;ie; Recht und Mäßigung gilt nichts<lb/>
mehr, der Bö&#x017F;e darf den Edleren verletzen, trügeri&#x017F;che,<lb/>
krumme Worte &#x017F;prechen, fal&#x017F;ches be&#x017F;chwören. Deßwegen<lb/>
&#x017F;ind die&#x017F;e Men&#x017F;chen auch &#x017F;o unglücklich. Schadenfrohe,<lb/>
mißlautige Scheel&#x017F;ucht verfolgt &#x017F;ie und grollt ihnen mit<lb/>
dem neidi&#x017F;chen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der<lb/>
Scham und der heiligen Scheu, welche &#x017F;ich bisher doch<lb/>
noch auf der Erde hatten blicken la&#x017F;&#x017F;en, verhüllen trau¬<lb/>
rig ihren &#x017F;chönen Leib in das weiße Gewand, und ver¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en die Men&#x017F;chen, um &#x017F;ich wieder in die Ver&#x017F;ammlung<lb/>
der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den &#x017F;terblichen<lb/>
Men&#x017F;chen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und<lb/>
keine Rettung von die&#x017F;em Unheil i&#x017F;t zu erwarten.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0040] denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr euren abgelebten Aeltern den Dank für ihre Pflege nicht erſtatten wollet? Ueberall gilt nur das Fauſtrecht; auf Städteverwüſtung ſinnen ſie gegeneinander. Nicht der¬ jenige wird begünſtigt, der die Wahrheit ſchwört, der ge¬ recht und gut iſt; nein, nur den Uebelthäter, den ſchnö¬ den Frevler ehren ſie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böſe darf den Edleren verletzen, trügeriſche, krumme Worte ſprechen, falſches beſchwören. Deßwegen ſind dieſe Menſchen auch ſo unglücklich. Schadenfrohe, mißlautige Scheelſucht verfolgt ſie und grollt ihnen mit dem neidiſchen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche ſich bisher doch noch auf der Erde hatten blicken laſſen, verhüllen trau¬ rig ihren ſchönen Leib in das weiße Gewand, und ver¬ laſſen die Menſchen, um ſich wieder in die Verſammlung der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den ſterblichen Menſchen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und keine Rettung von dieſem Unheil iſt zu erwarten.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/40
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/40>, abgerufen am 23.11.2024.