Kreon erkannte in der Thäterin seine Nichte Anti¬ gone. "Thörin," rief er ihr entgegen, "die du die Stirne zur Erde senkst, gestehst oder läugnest du dieses Werk?" -- "Ich gestehe es," erwiederte die Jungfrau und rich¬ tete ihr Haupt in die Höhe. "Und kanntest du," fragte der König weiter, "das Gesetz, das du so ohne Scheu übertratest?" -- "Wohl kannte ich es," sprach Antigone fest und ruhig, "aber von keinem der unsterblichen Göt¬ ter stammt diese Satzung. Auch kenne ich andere Gesetze, die nicht von gestern und von heute sind, die in Ewigkeit gelten und von denen niemand weiß, von wannen sie kommen. Kein Sterblicher darf diese übertreten, ohne dem Zorn der Götter anheimzufallen; ein solches Gesetz hat mir befohlen, den todten Sohn meiner Mutter nicht un¬ begraben zu lassen. Erscheint dir diese Handlungsweise thöricht, so ist es ein Thor, der mich der Thorheit be¬ schuldigt." -- "Meinst du," sprach Kreon, noch mehr erbittert durch den Widerspruch der Jungfrau, "deine starre Sinnesart sey nicht zu beugen? Zerspringt doch auch der sprödeste Stahl am ersten. Wer in eines An¬ dern Gewalt ist, der soll nicht trotzen!" Darauf ant¬ wortete Antigone: "Du kannst mir doch nicht mehr an¬ thun, als den Tod: wozu darum Aufschub? Mein Name wird nicht ruhmlos dadurch werden, daß ich sterbe, auch weiß ich, daß deinen Bürgern hier nur die Furcht den Mund verschließt und daß alle meine That im Herzen billigen; denn den Bruder lieben, ist die erste Schwe¬ sterpflicht." -- "Nun so liebe denn, im Hades," rief der
24 *
Antigone und Kreon.
Kreon erkannte in der Thäterin ſeine Nichte Anti¬ gone. „Thörin,“ rief er ihr entgegen, „die du die Stirne zur Erde ſenkſt, geſtehſt oder läugneſt du dieſes Werk?“ — „Ich geſtehe es,“ erwiederte die Jungfrau und rich¬ tete ihr Haupt in die Höhe. „Und kannteſt du,“ fragte der König weiter, „das Geſetz, das du ſo ohne Scheu übertrateſt?“ — „Wohl kannte ich es,“ ſprach Antigone feſt und ruhig, „aber von keinem der unſterblichen Göt¬ ter ſtammt dieſe Satzung. Auch kenne ich andere Geſetze, die nicht von geſtern und von heute ſind, die in Ewigkeit gelten und von denen niemand weiß, von wannen ſie kommen. Kein Sterblicher darf dieſe übertreten, ohne dem Zorn der Götter anheimzufallen; ein ſolches Geſetz hat mir befohlen, den todten Sohn meiner Mutter nicht un¬ begraben zu laſſen. Erſcheint dir dieſe Handlungsweiſe thöricht, ſo iſt es ein Thor, der mich der Thorheit be¬ ſchuldigt.“ — „Meinſt du,“ ſprach Kreon, noch mehr erbittert durch den Widerſpruch der Jungfrau, „deine ſtarre Sinnesart ſey nicht zu beugen? Zerſpringt doch auch der ſprödeſte Stahl am erſten. Wer in eines An¬ dern Gewalt iſt, der ſoll nicht trotzen!“ Darauf ant¬ wortete Antigone: „Du kannſt mir doch nicht mehr an¬ thun, als den Tod: wozu darum Aufſchub? Mein Name wird nicht ruhmlos dadurch werden, daß ich ſterbe, auch weiß ich, daß deinen Bürgern hier nur die Furcht den Mund verſchließt und daß alle meine That im Herzen billigen; denn den Bruder lieben, iſt die erſte Schwe¬ ſterpflicht.“ — „Nun ſo liebe denn, im Hades,“ rief der
24 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0397"n="371"/></div><divn="3"><head><hirendition="#fr #g">Antigone und Kreon.</hi><lb/></head><p>Kreon erkannte in der Thäterin ſeine Nichte Anti¬<lb/>
gone. „Thörin,“ rief er ihr entgegen, „die du die Stirne<lb/>
zur Erde ſenkſt, geſtehſt oder läugneſt du dieſes Werk?“<lb/>—„Ich geſtehe es,“ erwiederte die Jungfrau und rich¬<lb/>
tete ihr Haupt in die Höhe. „Und kannteſt du,“ fragte<lb/>
der König weiter, „das Geſetz, das du ſo ohne Scheu<lb/>
übertrateſt?“—„Wohl kannte ich es,“ſprach Antigone<lb/>
feſt und ruhig, „aber von keinem der unſterblichen Göt¬<lb/>
ter ſtammt dieſe Satzung. Auch kenne ich andere Geſetze,<lb/>
die nicht von geſtern und von heute ſind, die in Ewigkeit<lb/>
gelten und von denen niemand weiß, von wannen ſie<lb/>
kommen. Kein Sterblicher darf dieſe übertreten, ohne<lb/>
dem Zorn der Götter anheimzufallen; ein ſolches Geſetz hat<lb/>
mir befohlen, den todten Sohn meiner Mutter nicht un¬<lb/>
begraben zu laſſen. Erſcheint dir dieſe Handlungsweiſe<lb/>
thöricht, ſo iſt es ein Thor, der mich der Thorheit be¬<lb/>ſchuldigt.“—„Meinſt du,“ſprach Kreon, noch mehr<lb/>
erbittert durch den Widerſpruch der Jungfrau, „deine<lb/>ſtarre Sinnesart ſey nicht zu beugen? Zerſpringt doch<lb/>
auch der ſprödeſte Stahl am erſten. Wer in eines An¬<lb/>
dern Gewalt iſt, der ſoll nicht trotzen!“ Darauf ant¬<lb/>
wortete Antigone: „Du kannſt mir doch nicht mehr an¬<lb/>
thun, als den Tod: wozu darum Aufſchub? Mein Name<lb/>
wird nicht ruhmlos dadurch werden, daß ich ſterbe, auch<lb/>
weiß ich, daß deinen Bürgern hier nur die Furcht den<lb/>
Mund verſchließt und daß alle meine That im Herzen<lb/>
billigen; denn den Bruder lieben, iſt die erſte Schwe¬<lb/>ſterpflicht.“—„Nun ſo liebe denn, im Hades,“ rief der<lb/><fwtype="sig"place="bottom">24 *<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[371/0397]
Antigone und Kreon.
Kreon erkannte in der Thäterin ſeine Nichte Anti¬
gone. „Thörin,“ rief er ihr entgegen, „die du die Stirne
zur Erde ſenkſt, geſtehſt oder läugneſt du dieſes Werk?“
— „Ich geſtehe es,“ erwiederte die Jungfrau und rich¬
tete ihr Haupt in die Höhe. „Und kannteſt du,“ fragte
der König weiter, „das Geſetz, das du ſo ohne Scheu
übertrateſt?“ — „Wohl kannte ich es,“ ſprach Antigone
feſt und ruhig, „aber von keinem der unſterblichen Göt¬
ter ſtammt dieſe Satzung. Auch kenne ich andere Geſetze,
die nicht von geſtern und von heute ſind, die in Ewigkeit
gelten und von denen niemand weiß, von wannen ſie
kommen. Kein Sterblicher darf dieſe übertreten, ohne
dem Zorn der Götter anheimzufallen; ein ſolches Geſetz hat
mir befohlen, den todten Sohn meiner Mutter nicht un¬
begraben zu laſſen. Erſcheint dir dieſe Handlungsweiſe
thöricht, ſo iſt es ein Thor, der mich der Thorheit be¬
ſchuldigt.“ — „Meinſt du,“ ſprach Kreon, noch mehr
erbittert durch den Widerſpruch der Jungfrau, „deine
ſtarre Sinnesart ſey nicht zu beugen? Zerſpringt doch
auch der ſprödeſte Stahl am erſten. Wer in eines An¬
dern Gewalt iſt, der ſoll nicht trotzen!“ Darauf ant¬
wortete Antigone: „Du kannſt mir doch nicht mehr an¬
thun, als den Tod: wozu darum Aufſchub? Mein Name
wird nicht ruhmlos dadurch werden, daß ich ſterbe, auch
weiß ich, daß deinen Bürgern hier nur die Furcht den
Mund verſchließt und daß alle meine That im Herzen
billigen; denn den Bruder lieben, iſt die erſte Schwe¬
ſterpflicht.“ — „Nun ſo liebe denn, im Hades,“ rief der
24 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/397>, abgerufen am 17.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.