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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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mitleidest, wo gleiche Noth über dich gekommen ist! Du
und dein Bruder, ihr seyd nicht meine wahren Kinder; hinge
es von euch ab, so wäre ich längst todt. Nur durch
meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer schon der
Götter Rache. Du wirst deine Vaterstadt nicht vertil¬
gen; in deinem Blute wirst du liegen, und dein Bruder
in dem seinen. Dieß ist die Antwort, die du deinen
Bundesfürsten bringen magst!" Antigone nahte sich jetzt
ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entsetzt
vom Boden aufgesprungen und rückwärts gewichen war.
"Höre mein inbrünstiges Flehen, Polynices," sprach sie
ihn umfassend, kehre mit deinem Heere nach Argos zurück,
bekriege deine Vaterstadt nicht!" "Es ist unmöglich," er¬
wiederte zögernd der Bruder; "die Flucht brächte mir
Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zu
Grunde gehen müssen, dennoch können wir nicht Freunde
seyn!" So sprach er, wand sich aus der Schwester Ar¬
men und stürzte verzweifelnd davon.

So hatte Oedipus den Versuchungen seiner Ver¬
wandten nach beiden Seiten hin widerstanden und sie
dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war sein eigenes Ge¬
schick vollendet. Donnerschlag auf Donnerschlag erscholl
vom Himmel. Der Greis verstand seine Stimme und ver¬
langte sehnlich nach Theseus. Die ganze Gegend hüllte
sich in Gewitterfinsterniß. Eine große Angst bemächtigte
sich des blinden Königes: er fürchtete von seinem Gast¬
freunde nicht mehr lebend, oder nicht mehr unverstörten
Sinnes getroffen zu werden, und ihm den vollen Dank
für so viele Wohlthaten nicht mehr bezahlen zu können.
Endlich erschien Theseus, und nun sprach Oedipus seinen
feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte

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mitleideſt, wo gleiche Noth über dich gekommen iſt! Du
und dein Bruder, ihr ſeyd nicht meine wahren Kinder; hinge
es von euch ab, ſo wäre ich längſt todt. Nur durch
meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer ſchon der
Götter Rache. Du wirſt deine Vaterſtadt nicht vertil¬
gen; in deinem Blute wirſt du liegen, und dein Bruder
in dem ſeinen. Dieß iſt die Antwort, die du deinen
Bundesfürſten bringen magſt!“ Antigone nahte ſich jetzt
ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entſetzt
vom Boden aufgeſprungen und rückwärts gewichen war.
„Höre mein inbrünſtiges Flehen, Polynices,“ ſprach ſie
ihn umfaſſend, kehre mit deinem Heere nach Argos zurück,
bekriege deine Vaterſtadt nicht!“ „Es iſt unmöglich,“ er¬
wiederte zögernd der Bruder; „die Flucht brächte mir
Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zu
Grunde gehen müſſen, dennoch können wir nicht Freunde
ſeyn!“ So ſprach er, wand ſich aus der Schweſter Ar¬
men und ſtürzte verzweifelnd davon.

So hatte Oedipus den Verſuchungen ſeiner Ver¬
wandten nach beiden Seiten hin widerſtanden und ſie
dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war ſein eigenes Ge¬
ſchick vollendet. Donnerſchlag auf Donnerſchlag erſcholl
vom Himmel. Der Greis verſtand ſeine Stimme und ver¬
langte ſehnlich nach Theſeus. Die ganze Gegend hüllte
ſich in Gewitterfinſterniß. Eine große Angſt bemächtigte
ſich des blinden Königes: er fürchtete von ſeinem Gaſt¬
freunde nicht mehr lebend, oder nicht mehr unverſtörten
Sinnes getroffen zu werden, und ihm den vollen Dank
für ſo viele Wohlthaten nicht mehr bezahlen zu können.
Endlich erſchien Theſeus, und nun ſprach Oedipus ſeinen
feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte

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[339/0365] mitleideſt, wo gleiche Noth über dich gekommen iſt! Du und dein Bruder, ihr ſeyd nicht meine wahren Kinder; hinge es von euch ab, ſo wäre ich längſt todt. Nur durch meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer ſchon der Götter Rache. Du wirſt deine Vaterſtadt nicht vertil¬ gen; in deinem Blute wirſt du liegen, und dein Bruder in dem ſeinen. Dieß iſt die Antwort, die du deinen Bundesfürſten bringen magſt!“ Antigone nahte ſich jetzt ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entſetzt vom Boden aufgeſprungen und rückwärts gewichen war. „Höre mein inbrünſtiges Flehen, Polynices,“ ſprach ſie ihn umfaſſend, kehre mit deinem Heere nach Argos zurück, bekriege deine Vaterſtadt nicht!“ „Es iſt unmöglich,“ er¬ wiederte zögernd der Bruder; „die Flucht brächte mir Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zu Grunde gehen müſſen, dennoch können wir nicht Freunde ſeyn!“ So ſprach er, wand ſich aus der Schweſter Ar¬ men und ſtürzte verzweifelnd davon. So hatte Oedipus den Verſuchungen ſeiner Ver¬ wandten nach beiden Seiten hin widerſtanden und ſie dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war ſein eigenes Ge¬ ſchick vollendet. Donnerſchlag auf Donnerſchlag erſcholl vom Himmel. Der Greis verſtand ſeine Stimme und ver¬ langte ſehnlich nach Theſeus. Die ganze Gegend hüllte ſich in Gewitterfinſterniß. Eine große Angſt bemächtigte ſich des blinden Königes: er fürchtete von ſeinem Gaſt¬ freunde nicht mehr lebend, oder nicht mehr unverſtörten Sinnes getroffen zu werden, und ihm den vollen Dank für ſo viele Wohlthaten nicht mehr bezahlen zu können. Endlich erſchien Theſeus, und nun ſprach Oedipus ſeinen feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte 22 *

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/365>, abgerufen am 24.11.2024.