verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theseus, den die Bot¬ schaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis ge¬ treten wäre. Dieser ging freundlich und ehrerbietig auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an: "Armer Oedipus, mir ist dein Geschick nicht unbekannt, und schon deine gewaltsam geblendeten Augen sagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der Stadt und mir suchest. Die That, zu der du meine Beihülfe verlangst, müßte eine schreckliche seyn, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich hab' es nicht ver¬ gessen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen heran¬ gewachsen bin, und viele Fährlichkeiten ausgestanden habe." -- "Ich erkenne deinen Seelenadel in dieser kur¬ zen Rede," antwortete Oedipus, "ich komme dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine Gabe ist. Ich schenke dir diesen meinen leidensmüden Leib, freilich ein sehr unscheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du sollst mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit ärnten!" -- "Fürwahr," sagte Theseus erstaunt, "die Gunst, um welche du flehest, ist klein. Verlange etwas Besseres, etwas Höheres, und es soll dir Alles von mir gewährt seyn." -- "Die Gunst ist nicht so leicht, als du glaubst, o König," fuhr Oedipus fort, "du wirst einen Streit um diesen meinen elenden Leib zu bestehen haben." Nun erzählte er ihm seine Verjagung und das späte und eigennützige Verlangen seiner Verwandten, ihn wieder zu besitzen; dann bat er ihn flehentlich um seinen Heldenbei¬ stand. Theseus hörte aufmerksam zu und sprach endlich feierlich: "Schon weil jedem Gastfreunde mein Haus offen steht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen;
verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theſeus, den die Bot¬ ſchaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis ge¬ treten wäre. Dieſer ging freundlich und ehrerbietig auf den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen Worten an: „Armer Oedipus, mir iſt dein Geſchick nicht unbekannt, und ſchon deine gewaltſam geblendeten Augen ſagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei der Stadt und mir ſucheſt. Die That, zu der du meine Beihülfe verlangſt, müßte eine ſchreckliche ſeyn, wenn ich mich von dir abwenden könnte. Ich hab' es nicht ver¬ geſſen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen heran¬ gewachſen bin, und viele Fährlichkeiten ausgeſtanden habe.“ — „Ich erkenne deinen Seelenadel in dieſer kur¬ zen Rede,“ antwortete Oedipus, „ich komme dir eine Bitte vorzutragen, die eigentlich eine Gabe iſt. Ich ſchenke dir dieſen meinen leidensmüden Leib, freilich ein ſehr unſcheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du ſollſt mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit ärnten!“ — „Fürwahr,“ ſagte Theſeus erſtaunt, „die Gunſt, um welche du fleheſt, iſt klein. Verlange etwas Beſſeres, etwas Höheres, und es ſoll dir Alles von mir gewährt ſeyn.“ — „Die Gunſt iſt nicht ſo leicht, als du glaubſt, o König,“ fuhr Oedipus fort, „du wirſt einen Streit um dieſen meinen elenden Leib zu beſtehen haben.“ Nun erzählte er ihm ſeine Verjagung und das ſpäte und eigennützige Verlangen ſeiner Verwandten, ihn wieder zu beſitzen; dann bat er ihn flehentlich um ſeinen Heldenbei¬ ſtand. Theſeus hörte aufmerkſam zu und ſprach endlich feierlich: „Schon weil jedem Gaſtfreunde mein Haus offen ſteht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen;
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verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theſeus, den die Bot¬
ſchaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis ge¬
treten wäre. Dieſer ging freundlich und ehrerbietig auf
den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen
Worten an: „Armer Oedipus, mir iſt dein Geſchick
nicht unbekannt, und ſchon deine gewaltſam geblendeten
Augen ſagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück
rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei
der Stadt und mir ſucheſt. Die That, zu der du meine
Beihülfe verlangſt, müßte eine ſchreckliche ſeyn, wenn ich
mich von dir abwenden könnte. Ich hab' es nicht ver¬
geſſen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen heran¬
gewachſen bin, und viele Fährlichkeiten ausgeſtanden
habe.“ — „Ich erkenne deinen Seelenadel in dieſer kur¬
zen Rede,“ antwortete Oedipus, „ich komme dir eine Bitte
vorzutragen, die eigentlich eine Gabe iſt. Ich ſchenke
dir dieſen meinen leidensmüden Leib, freilich ein ſehr
unſcheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du ſollſt
mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit
ärnten!“ — „Fürwahr,“ ſagte Theſeus erſtaunt, „die
Gunſt, um welche du fleheſt, iſt klein. Verlange etwas
Beſſeres, etwas Höheres, und es ſoll dir Alles von mir
gewährt ſeyn.“ — „Die Gunſt iſt nicht ſo leicht, als
du glaubſt, o König,“ fuhr Oedipus fort, „du wirſt einen
Streit um dieſen meinen elenden Leib zu beſtehen haben.“
Nun erzählte er ihm ſeine Verjagung und das ſpäte und
eigennützige Verlangen ſeiner Verwandten, ihn wieder zu
beſitzen; dann bat er ihn flehentlich um ſeinen Heldenbei¬
ſtand. Theſeus hörte aufmerkſam zu und ſprach endlich
feierlich: „Schon weil jedem Gaſtfreunde mein Haus
offen ſteht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen;
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/360>, abgerufen am 23.11.2024.
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