als der Blinde sich ihnen als einen vom Schicksale ver¬ folgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten, den Zorn der Gottheit auf sich zu laden, wenn sie einen vom Himmel Gezeichneten länger an diesem heiligen Orte dul¬ deten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landschaft zu verlassen. Oedipus bat sie inständig, ihn von dem Ziele seiner Wanderschaft, das ihm die Stimme der Gott¬ heit selbst angewiesen habe, nicht zu verstoßen; Antigone vereinigte ihr Flehen mit dem seinen. "Wenn ihr euch der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet," sprach die Jungfrau, "so nehmet ihn doch um meiner, der Verlassenen willen auf: denn auf mir lastet ja keine Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunst unverhofft!" Während sie solche Zwiesprache pflegten und die Einwoh¬ ner zwischen Mitleid und Furcht vor den Erinnyen in ihrem Entschlusse zweifelhaft hin und her schwankten, sah Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Rosse sitzend, das Angesicht mit einem Reisehut vor der Sonne geschützt, heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Rosse, folgte ihr. "Es ist meine Ismene," sagte sie in freudigem Schrecken, "schon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiß bringt sie uns neue Kunde aus der Heimath!" Bald war die Jungfrau, das jüngste Kind des verstoßenen Königs, bei ihnen angelangt und vom Saumrosse gesprungen. Mit einem einzigen Knechte, den sie allein treu befunden, hatte sie sich von Theben aufgemacht, um dem Vater Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten zu bringen. Dort waren seine Söhne von großer, selbst¬ verschuldeter Noth bedrängt. Anfangs hatten sie die Ab¬ sicht, ihrem Oheime Kreon den Thron ganz zu überlassen, denn der Fluch ihres Stammes schwebte ihnen drohend
als der Blinde ſich ihnen als einen vom Schickſale ver¬ folgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten, den Zorn der Gottheit auf ſich zu laden, wenn ſie einen vom Himmel Gezeichneten länger an dieſem heiligen Orte dul¬ deten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landſchaft zu verlaſſen. Oedipus bat ſie inſtändig, ihn von dem Ziele ſeiner Wanderſchaft, das ihm die Stimme der Gott¬ heit ſelbſt angewieſen habe, nicht zu verſtoßen; Antigone vereinigte ihr Flehen mit dem ſeinen. „Wenn ihr euch der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet,“ ſprach die Jungfrau, „ſo nehmet ihn doch um meiner, der Verlaſſenen willen auf: denn auf mir laſtet ja keine Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunſt unverhofft!“ Während ſie ſolche Zwieſprache pflegten und die Einwoh¬ ner zwiſchen Mitleid und Furcht vor den Erinnyen in ihrem Entſchluſſe zweifelhaft hin und her ſchwankten, ſah Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Roſſe ſitzend, das Angeſicht mit einem Reiſehut vor der Sonne geſchützt, heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Roſſe, folgte ihr. „Es iſt meine Iſmene,“ ſagte ſie in freudigem Schrecken, „ſchon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiß bringt ſie uns neue Kunde aus der Heimath!“ Bald war die Jungfrau, das jüngſte Kind des verſtoßenen Königs, bei ihnen angelangt und vom Saumroſſe geſprungen. Mit einem einzigen Knechte, den ſie allein treu befunden, hatte ſie ſich von Theben aufgemacht, um dem Vater Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten zu bringen. Dort waren ſeine Söhne von großer, ſelbſt¬ verſchuldeter Noth bedrängt. Anfangs hatten ſie die Ab¬ ſicht, ihrem Oheime Kreon den Thron ganz zu überlaſſen, denn der Fluch ihres Stammes ſchwebte ihnen drohend
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als der Blinde ſich ihnen als einen vom Schickſale ver¬
folgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten, den
Zorn der Gottheit auf ſich zu laden, wenn ſie einen vom
Himmel Gezeichneten länger an dieſem heiligen Orte dul¬
deten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landſchaft
zu verlaſſen. Oedipus bat ſie inſtändig, ihn von dem
Ziele ſeiner Wanderſchaft, das ihm die Stimme der Gott¬
heit ſelbſt angewieſen habe, nicht zu verſtoßen; Antigone
vereinigte ihr Flehen mit dem ſeinen. „Wenn ihr euch
der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet,“
ſprach die Jungfrau, „ſo nehmet ihn doch um meiner, der
Verlaſſenen willen auf: denn auf mir laſtet ja keine
Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunſt unverhofft!“
Während ſie ſolche Zwieſprache pflegten und die Einwoh¬
ner zwiſchen Mitleid und Furcht vor den Erinnyen in
ihrem Entſchluſſe zweifelhaft hin und her ſchwankten, ſah
Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Roſſe ſitzend,
das Angeſicht mit einem Reiſehut vor der Sonne geſchützt,
heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Roſſe, folgte ihr.
„Es iſt meine Iſmene,“ ſagte ſie in freudigem Schrecken,
„ſchon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiß bringt
ſie uns neue Kunde aus der Heimath!“ Bald war die
Jungfrau, das jüngſte Kind des verſtoßenen Königs, bei
ihnen angelangt und vom Saumroſſe geſprungen. Mit
einem einzigen Knechte, den ſie allein treu befunden,
hatte ſie ſich von Theben aufgemacht, um dem Vater
Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten
zu bringen. Dort waren ſeine Söhne von großer, ſelbſt¬
verſchuldeter Noth bedrängt. Anfangs hatten ſie die Ab¬
ſicht, ihrem Oheime Kreon den Thron ganz zu überlaſſen,
denn der Fluch ihres Stammes ſchwebte ihnen drohend
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/357>, abgerufen am 23.11.2024.
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