Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

aber halte mich für einen Sohn des Glückes, und schäme
mich dieser Abkunft nicht!" Jetzt nahte sich der greise
Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und
von dem Corinther sogleich als derjenige erkannt wurde,
der ihm einst den Knaben auf dem Cithäron übergeben
hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schre¬
cken und wollte alles läugnen; nur auf die zornigen Dro¬
hungen des Oedipus, der ihn mit Stricken zu binden be¬
fahl, sagte er endlich die Wahrheit: wie Oedipus der
Sohn des Laius und der Jokaste sey, wie der furchtbare
Götterspruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in
seine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten
habe.


Jokaste und Oedipus strafen sich.

Aller Zweifel war nun gehoben und das Entsetzliche
enthüllt. Mit einem wahnsinnigen Schrei stürzte Oedipus
davon, irrte in dem Pallast umher und verlangte nach
einem Schwerdt, um das Ungeheuer, das seine Mutter
und Gattin sey, von der Erde zu vertilgen. Da ihm,
wie einem Rasenden, alles aus dem Wege ging, suchte
er gräßlich heulend sein Schlafgemach auf, sprengte das
verschlossene Doppelthor und brach hinein. Ein grauen¬
hafter Anblick hemmte seinen Lauf. Mit fliegendem und
zerrauftem Haupthaar sah er hier, hoch über dem Lager
schwebend, Jokaste, die sich mit einem Strang die Kehle
zugeschnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinstarren
nahte sich Oedipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen,
ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß sich

aber halte mich für einen Sohn des Glückes, und ſchäme
mich dieſer Abkunft nicht!“ Jetzt nahte ſich der greiſe
Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und
von dem Corinther ſogleich als derjenige erkannt wurde,
der ihm einſt den Knaben auf dem Cithäron übergeben
hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schre¬
cken und wollte alles läugnen; nur auf die zornigen Dro¬
hungen des Oedipus, der ihn mit Stricken zu binden be¬
fahl, ſagte er endlich die Wahrheit: wie Oedipus der
Sohn des Laïus und der Jokaſte ſey, wie der furchtbare
Götterſpruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in
ſeine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten
habe.


Jokaſte und Oedipus ſtrafen ſich.

Aller Zweifel war nun gehoben und das Entſetzliche
enthüllt. Mit einem wahnſinnigen Schrei ſtürzte Oedipus
davon, irrte in dem Pallaſt umher und verlangte nach
einem Schwerdt, um das Ungeheuer, das ſeine Mutter
und Gattin ſey, von der Erde zu vertilgen. Da ihm,
wie einem Raſenden, alles aus dem Wege ging, ſuchte
er gräßlich heulend ſein Schlafgemach auf, ſprengte das
verſchloſſene Doppelthor und brach hinein. Ein grauen¬
hafter Anblick hemmte ſeinen Lauf. Mit fliegendem und
zerrauftem Haupthaar ſah er hier, hoch über dem Lager
ſchwebend, Jokaſte, die ſich mit einem Strang die Kehle
zugeſchnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinſtarren
nahte ſich Oedipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen,
ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0350" n="324"/>
aber halte mich für einen Sohn des Glückes, und &#x017F;chäme<lb/>
mich die&#x017F;er Abkunft nicht!&#x201C; Jetzt nahte &#x017F;ich der grei&#x017F;e<lb/>
Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und<lb/>
von dem Corinther &#x017F;ogleich als derjenige erkannt wurde,<lb/>
der ihm ein&#x017F;t den Knaben auf dem Cithäron übergeben<lb/>
hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schre¬<lb/>
cken und wollte alles läugnen; nur auf die zornigen Dro¬<lb/>
hungen des Oedipus, der ihn mit Stricken zu binden be¬<lb/>
fahl, &#x017F;agte er endlich die Wahrheit: wie Oedipus der<lb/>
Sohn des La<hi rendition="#aq">ï</hi>us und der Joka&#x017F;te &#x017F;ey, wie der furchtbare<lb/>
Götter&#x017F;pruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in<lb/>
&#x017F;eine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten<lb/>
habe.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          </div>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b #fr #g">Joka&#x017F;te und Oedipus &#x017F;trafen &#x017F;ich.</hi><lb/>
            </head>
            <p>Aller Zweifel war nun gehoben und das Ent&#x017F;etzliche<lb/>
enthüllt. Mit einem wahn&#x017F;innigen Schrei &#x017F;türzte Oedipus<lb/>
davon, irrte in dem Palla&#x017F;t umher und verlangte nach<lb/>
einem Schwerdt, um das Ungeheuer, das &#x017F;eine Mutter<lb/>
und Gattin &#x017F;ey, von der Erde zu vertilgen. Da ihm,<lb/>
wie einem Ra&#x017F;enden, alles aus dem Wege ging, &#x017F;uchte<lb/>
er gräßlich heulend &#x017F;ein Schlafgemach auf, &#x017F;prengte das<lb/>
ver&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Doppelthor und brach hinein. Ein grauen¬<lb/>
hafter Anblick hemmte &#x017F;einen Lauf. Mit fliegendem und<lb/>
zerrauftem Haupthaar &#x017F;ah er hier, hoch über dem Lager<lb/>
&#x017F;chwebend, Joka&#x017F;te, die &#x017F;ich mit einem Strang die Kehle<lb/>
zuge&#x017F;chnürt und erhängt hatte. Nach langem Hin&#x017F;tarren<lb/>
nahte &#x017F;ich Oedipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen,<lb/>
ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß &#x017F;ich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[324/0350] aber halte mich für einen Sohn des Glückes, und ſchäme mich dieſer Abkunft nicht!“ Jetzt nahte ſich der greiſe Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und von dem Corinther ſogleich als derjenige erkannt wurde, der ihm einſt den Knaben auf dem Cithäron übergeben hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schre¬ cken und wollte alles läugnen; nur auf die zornigen Dro¬ hungen des Oedipus, der ihn mit Stricken zu binden be¬ fahl, ſagte er endlich die Wahrheit: wie Oedipus der Sohn des Laïus und der Jokaſte ſey, wie der furchtbare Götterſpruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in ſeine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten habe. Jokaſte und Oedipus ſtrafen ſich. Aller Zweifel war nun gehoben und das Entſetzliche enthüllt. Mit einem wahnſinnigen Schrei ſtürzte Oedipus davon, irrte in dem Pallaſt umher und verlangte nach einem Schwerdt, um das Ungeheuer, das ſeine Mutter und Gattin ſey, von der Erde zu vertilgen. Da ihm, wie einem Raſenden, alles aus dem Wege ging, ſuchte er gräßlich heulend ſein Schlafgemach auf, ſprengte das verſchloſſene Doppelthor und brach hinein. Ein grauen¬ hafter Anblick hemmte ſeinen Lauf. Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar ſah er hier, hoch über dem Lager ſchwebend, Jokaſte, die ſich mit einem Strang die Kehle zugeſchnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinſtarren nahte ſich Oedipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen, ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/350
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/350>, abgerufen am 17.11.2024.