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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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die Kniee! Als er aber auch so keine weitern Aufschlüsse
geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn
des Königs Oedipus, und er schalt den Tiresias als
Mitwisser oder gar Fausthelfer bei der Ermordung des
Laius. Ja, wenn er nur sehend wäre, so traute er ihm
allein die Unthat zu. Diese Beschuldigung löste dem blin¬
den Propheten die Zunge. "Oedipus," sprach er, "ge¬
horche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht,
rede Keinen aus dem Volke fürder an. Denn du selbst
bist der Greuel, der diese Stadt besudelt! Ja, du bist
der Königsmörder, du bist derjenige, der mit den Theuer¬
sten in fluchwürdigem Verhältnisse lebt."

Oedipus war nun einmal verblendet: er schalt den
Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er
warf Verdacht auch auf seinen Schwager Kreon, und
beschuldigte beide der Verschwörung gegen den Thron,
von welchem sie durch ihre Lügengespinnste ihn, den Er¬
retter der Stadt, stürzen wollten. Aber nur noch näher
bezeichnete ihn jetzt Tiresias als Vatermörder und Gatten
der Mutter, weissagte ihm sein nahe bevorstehendes Elend
und entfernte sich zürnend an der Hand seines kleinen
Führers. Auf die Beschuldigung des Königes war indes¬
sen auch der Fürst Kreon herbeigeeilt und es hatte sich
ein heftiger Wortwechsel zwischen Beiden entsponnen, den
Jokaste, die sich zwischen die Streitenden warf, vergeblich
zu beschwichtigen suchte. Kreon schied unversöhnt und im
Zorn von seinem Schwager.

Noch blinder als der König selbst war seine Ge¬
mahlin Jokaste. Sie hatte kaum aus dem Munde des
Gatten erfahren, daß Tiresias ihn den Mörder des Laius
genannt, als sie in laute Verwünschungen gegen Seher

Schwab, das klass. Alterthum. I. 21

die Kniee! Als er aber auch ſo keine weitern Aufſchlüſſe
geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn
des Königs Oedipus, und er ſchalt den Tireſias als
Mitwiſſer oder gar Fauſthelfer bei der Ermordung des
Laïus. Ja, wenn er nur ſehend wäre, ſo traute er ihm
allein die Unthat zu. Dieſe Beſchuldigung löste dem blin¬
den Propheten die Zunge. „Oedipus,“ ſprach er, „ge¬
horche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht,
rede Keinen aus dem Volke fürder an. Denn du ſelbſt
biſt der Greuel, der dieſe Stadt beſudelt! Ja, du biſt
der Königsmörder, du biſt derjenige, der mit den Theuer¬
ſten in fluchwürdigem Verhältniſſe lebt.“

Oedipus war nun einmal verblendet: er ſchalt den
Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er
warf Verdacht auch auf ſeinen Schwager Kreon, und
beſchuldigte beide der Verſchwörung gegen den Thron,
von welchem ſie durch ihre Lügengeſpinnſte ihn, den Er¬
retter der Stadt, ſtürzen wollten. Aber nur noch näher
bezeichnete ihn jetzt Tireſias als Vatermörder und Gatten
der Mutter, weiſſagte ihm ſein nahe bevorſtehendes Elend
und entfernte ſich zürnend an der Hand ſeines kleinen
Führers. Auf die Beſchuldigung des Königes war indeſ¬
ſen auch der Fürſt Kreon herbeigeeilt und es hatte ſich
ein heftiger Wortwechſel zwiſchen Beiden entſponnen, den
Jokaſte, die ſich zwiſchen die Streitenden warf, vergeblich
zu beſchwichtigen ſuchte. Kreon ſchied unverſöhnt und im
Zorn von ſeinem Schwager.

Noch blinder als der König ſelbſt war ſeine Ge¬
mahlin Jokaſte. Sie hatte kaum aus dem Munde des
Gatten erfahren, daß Tireſias ihn den Mörder des Laïus
genannt, als ſie in laute Verwünſchungen gegen Seher

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 21
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[321/0347] die Kniee! Als er aber auch ſo keine weitern Aufſchlüſſe geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn des Königs Oedipus, und er ſchalt den Tireſias als Mitwiſſer oder gar Fauſthelfer bei der Ermordung des Laïus. Ja, wenn er nur ſehend wäre, ſo traute er ihm allein die Unthat zu. Dieſe Beſchuldigung löste dem blin¬ den Propheten die Zunge. „Oedipus,“ ſprach er, „ge¬ horche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht, rede Keinen aus dem Volke fürder an. Denn du ſelbſt biſt der Greuel, der dieſe Stadt beſudelt! Ja, du biſt der Königsmörder, du biſt derjenige, der mit den Theuer¬ ſten in fluchwürdigem Verhältniſſe lebt.“ Oedipus war nun einmal verblendet: er ſchalt den Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er warf Verdacht auch auf ſeinen Schwager Kreon, und beſchuldigte beide der Verſchwörung gegen den Thron, von welchem ſie durch ihre Lügengeſpinnſte ihn, den Er¬ retter der Stadt, ſtürzen wollten. Aber nur noch näher bezeichnete ihn jetzt Tireſias als Vatermörder und Gatten der Mutter, weiſſagte ihm ſein nahe bevorſtehendes Elend und entfernte ſich zürnend an der Hand ſeines kleinen Führers. Auf die Beſchuldigung des Königes war indeſ¬ ſen auch der Fürſt Kreon herbeigeeilt und es hatte ſich ein heftiger Wortwechſel zwiſchen Beiden entſponnen, den Jokaſte, die ſich zwiſchen die Streitenden warf, vergeblich zu beſchwichtigen ſuchte. Kreon ſchied unverſöhnt und im Zorn von ſeinem Schwager. Noch blinder als der König ſelbſt war ſeine Ge¬ mahlin Jokaſte. Sie hatte kaum aus dem Munde des Gatten erfahren, daß Tireſias ihn den Mörder des Laïus genannt, als ſie in laute Verwünſchungen gegen Seher Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 21

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/347>, abgerufen am 22.11.2024.