Frevels und die unerhörte Leidenschaft stritten sich in ih¬ rer Brust; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als Theseus zurückkehrte, fand er seine Gattin erhängt und in ihrer krampfhaft zusammengeballten Rechten einen von ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬ schrieben stand: "Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬ trachtet; seinen Nachstellungen zu entfliehen ist mir nur Ein Ausweg geblieben. Ich bin gestorben, ehe ich die Treue meinem Gatten verletzt habe."
Lange stand Theseus vor Entsetzen und Abscheu wie eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er seine Hände gen Himmel und betete: "Vater Neptunus, der du mich stets geliebt hast, wie dein leibliches Kind, du hast mir einst drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wollest und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne ich dich an dein Versprechen. Nur Eine Bitte will ich erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an diesem Tage die Sonne nicht mehr untergehen!" Kaum hatte er diesen Fluch ausgesprochen, als auch Hippolytus von der Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr seines Vaters unterrichtet, in den Pallast einging und der Spur des Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen des Vaters erwiederte der Sohn mit sanfter Ruhe: "Vater, mein Gewissen ist jungfräulich. Ich weiß mich dieser Unthat nicht schuldig." Aber Theseus hielt ihm den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief seine Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin seiner Unschuld auf und sagte seinem zweiten Heimathlande Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.
Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬ rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬ ſchrieben ſtand: „Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬ trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die Treue meinem Gatten verletzt habe.“
Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände gen Himmel und betete: „Vater Neptunus, der du mich ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem Tage die Sonne nicht mehr untergehen!“ Kaum hatte er dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe: „Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich dieſer Unthat nicht ſchuldig.“ Aber Theſeus hielt ihm den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0328"n="302"/>
Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬<lb/>
rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als<lb/>
Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und<lb/>
in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von<lb/>
ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬<lb/>ſchrieben ſtand: „Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬<lb/>
trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur<lb/>
Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die<lb/>
Treue meinem Gatten verletzt habe.“</p><lb/><p>Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie<lb/>
eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände<lb/>
gen Himmel und betete: „Vater Neptunus, der du mich<lb/>ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir<lb/>
einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt<lb/>
und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne<lb/>
ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich<lb/>
erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem<lb/>
Tage die Sonne nicht mehr untergehen!“ Kaum hatte er<lb/>
dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der<lb/>
Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters<lb/>
unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des<lb/>
Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und<lb/>
die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen<lb/>
des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe:<lb/>„Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich<lb/>
dieſer Unthat nicht ſchuldig.“ Aber Theſeus hielt ihm<lb/>
den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn<lb/>
ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine<lb/>
Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner<lb/>
Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande<lb/>
Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[302/0328]
Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬
rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als
Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und
in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von
ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬
ſchrieben ſtand: „Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬
trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur
Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die
Treue meinem Gatten verletzt habe.“
Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie
eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände
gen Himmel und betete: „Vater Neptunus, der du mich
ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir
einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt
und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne
ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich
erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem
Tage die Sonne nicht mehr untergehen!“ Kaum hatte er
dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der
Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters
unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des
Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und
die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen
des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe:
„Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich
dieſer Unthat nicht ſchuldig.“ Aber Theſeus hielt ihm
den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn
ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine
Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner
Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande
Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/328>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.