Abentheuern zog der Held weiter, befreite, wie schon er¬ zählt worden ist, den an den Caucasus geschmiedeten Ti¬ tanen Prometheus, und gelangte endlich, nach der An¬ weisung des Befreiten, in das Land, wo Atlas die Last des Himmels trug, und in dessen Nähe der Baum mit den goldenen Aepfeln von den Hesperiden gehütet wurde. Prometheus hatte dem Halbgotte gerathen, sich nicht selbst dem Raube der goldenen Früchte zu unterziehen, sondern den Atlas auf diesen Fang auszusenden. Er selbst erbot sich dafür diesem, so lange das Tragen des Himmels über sich zu nehmen. Atlas bezeigte sich willig und Her¬ kules stemmte die mächtigen Schultern dem Himmelsge¬ wölbe unter. Jener dagegen machte sich auf, schläferte den um den Baum sich ringelnden Drachen ein, oder tödtete ihn, überlistete die Hüterinnen und kam mit drei Aepfeln, die er gepflückt, glücklich zu Herkules. "Aber," sprach er, "meine Schultern haben nun einmal empfunden, wie es schmeckt, wenn der eherne Himmel nicht auf ih¬ nen lastet. Ich mag ihn fürder nicht wieder tragen." So warf er die Aepfel vor dem Halbgott auf den Ra¬ sen und ließ diesen mit der ungewohnten, unerträglichen Last stehen. Herkules mußte auf eine List sinnen, um los zu kommen. "Laß mich," sprach er zu dem Himmels¬ träger, "nur einen Bausch von Stricken um den Kopf winden, damit mir die entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt." Atlas fand die Forderung billig und stellte sich, nach seiner Meinung auf wenige Augenblicke, dem Himmel wieder unter. Aber er konnte lange warten, bis Herkules ihn wieder ablöste, und der Betrüger wurde zum Betrogenen. Denn jener hatte nicht so bald die Aepfel vom Rasen aufgelesen, als er mit den goldenen
Abentheuern zog der Held weiter, befreite, wie ſchon er¬ zählt worden iſt, den an den Caucaſus geſchmiedeten Ti¬ tanen Prometheus, und gelangte endlich, nach der An¬ weiſung des Befreiten, in das Land, wo Atlas die Laſt des Himmels trug, und in deſſen Nähe der Baum mit den goldenen Aepfeln von den Heſperiden gehütet wurde. Prometheus hatte dem Halbgotte gerathen, ſich nicht ſelbſt dem Raube der goldenen Früchte zu unterziehen, ſondern den Atlas auf dieſen Fang auszuſenden. Er ſelbſt erbot ſich dafür dieſem, ſo lange das Tragen des Himmels über ſich zu nehmen. Atlas bezeigte ſich willig und Her¬ kules ſtemmte die mächtigen Schultern dem Himmelsge¬ wölbe unter. Jener dagegen machte ſich auf, ſchläferte den um den Baum ſich ringelnden Drachen ein, oder tödtete ihn, überliſtete die Hüterinnen und kam mit drei Aepfeln, die er gepflückt, glücklich zu Herkules. „Aber,“ ſprach er, „meine Schultern haben nun einmal empfunden, wie es ſchmeckt, wenn der eherne Himmel nicht auf ih¬ nen laſtet. Ich mag ihn fürder nicht wieder tragen.“ So warf er die Aepfel vor dem Halbgott auf den Ra¬ ſen und ließ dieſen mit der ungewohnten, unerträglichen Laſt ſtehen. Herkules mußte auf eine Liſt ſinnen, um los zu kommen. „Laß mich,“ ſprach er zu dem Himmels¬ träger, „nur einen Bauſch von Stricken um den Kopf winden, damit mir die entſetzliche Laſt nicht das Gehirn zerſprengt.“ Atlas fand die Forderung billig und ſtellte ſich, nach ſeiner Meinung auf wenige Augenblicke, dem Himmel wieder unter. Aber er konnte lange warten, bis Herkules ihn wieder ablöſte, und der Betrüger wurde zum Betrogenen. Denn jener hatte nicht ſo bald die Aepfel vom Raſen aufgeleſen, als er mit den goldenen
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Abentheuern zog der Held weiter, befreite, wie ſchon er¬
zählt worden iſt, den an den Caucaſus geſchmiedeten Ti¬
tanen Prometheus, und gelangte endlich, nach der An¬
weiſung des Befreiten, in das Land, wo Atlas die Laſt
des Himmels trug, und in deſſen Nähe der Baum mit
den goldenen Aepfeln von den Heſperiden gehütet wurde.
Prometheus hatte dem Halbgotte gerathen, ſich nicht ſelbſt
dem Raube der goldenen Früchte zu unterziehen, ſondern
den Atlas auf dieſen Fang auszuſenden. Er ſelbſt erbot
ſich dafür dieſem, ſo lange das Tragen des Himmels
über ſich zu nehmen. Atlas bezeigte ſich willig und Her¬
kules ſtemmte die mächtigen Schultern dem Himmelsge¬
wölbe unter. Jener dagegen machte ſich auf, ſchläferte
den um den Baum ſich ringelnden Drachen ein, oder
tödtete ihn, überliſtete die Hüterinnen und kam mit drei
Aepfeln, die er gepflückt, glücklich zu Herkules. „Aber,“
ſprach er, „meine Schultern haben nun einmal empfunden,
wie es ſchmeckt, wenn der eherne Himmel nicht auf ih¬
nen laſtet. Ich mag ihn fürder nicht wieder tragen.“
So warf er die Aepfel vor dem Halbgott auf den Ra¬
ſen und ließ dieſen mit der ungewohnten, unerträglichen
Laſt ſtehen. Herkules mußte auf eine Liſt ſinnen, um los
zu kommen. „Laß mich,“ ſprach er zu dem Himmels¬
träger, „nur einen Bauſch von Stricken um den Kopf
winden, damit mir die entſetzliche Laſt nicht das Gehirn
zerſprengt.“ Atlas fand die Forderung billig und ſtellte
ſich, nach ſeiner Meinung auf wenige Augenblicke, dem
Himmel wieder unter. Aber er konnte lange warten, bis
Herkules ihn wieder ablöſte, und der Betrüger wurde
zum Betrogenen. Denn jener hatte nicht ſo bald die
Aepfel vom Raſen aufgeleſen, als er mit den goldenen
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/260>, abgerufen am 23.11.2024.
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