zesten und bequemsten Pfade zur Seligkeit leiten." -- "Elende," erwiederte die Tugend, "wie kannst du etwas Gutes besitzen? oder welches Vergnügen kennst du, die du jeder Lust durch Sättigung zuvorkommst? Du ißest, ehe dich hungert, und trinkest, ehe dich dürstet. Um die Eßlust zu reizen, suchst du Köche auf, um mit Lust zu trinken, schaffst du dir kostbare Weine an und des Sommers gehst du umher und suchest nach Schnee; kein Bett kann dir weichlich genug seyn, deine Freunde läßest du die Nächte durchprassen und den besten Theil des Tages ver¬ schlafen: darum hüpfen sie auch sorgenlos und geputzt durch die Jugend dahin, und schleppen sich mühselig und im Schmutze durch das Alter, beschämt über das was sie gethan, und fast erliegend unter der Last dessen, was sie thun müssen. Und du selbst, obwohl unsterblich, bist gleich¬ wohl von den Göttern verstoßen und von guten Menschen verachtet. Was dem Ohre am lieblichsten klingt, dein eigenes Lob, hast du nie gehört; was das Auge mehr als Alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, hast du nie gesehen. -- Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit allen guten Menschen Verkehr. An mir haben die Künst¬ ler eine willkommene Gehülfin, an mir die Hausväter eine treue Wächterin, an mir hat das Gesinde einen liebreichen Beistand. Ich bin eine redliche Theilnehmerin an den Geschäften des Friedens, eine zuverläßige Mit¬ kämpferin im Kriege, die treueste Genossin der Freund¬ schaft. Speise, Trank und Schlaf schmeckt meinen Freun¬ den besser als den Trägen. Die Jüngeren freuen sich des Beifalls der Alten, die Aelteren der Ehre bei den Jungen; mit Vergnügen erinnern sie sich an ihre frühe¬ ren Handlungen und fühlen sich bei ihrem jetzigen Thun
zeſten und bequemſten Pfade zur Seligkeit leiten.“ — „Elende,“ erwiederte die Tugend, „wie kannſt du etwas Gutes beſitzen? oder welches Vergnügen kennſt du, die du jeder Luſt durch Sättigung zuvorkommſt? Du ißeſt, ehe dich hungert, und trinkeſt, ehe dich dürſtet. Um die Eßluſt zu reizen, ſuchſt du Köche auf, um mit Luſt zu trinken, ſchaffſt du dir koſtbare Weine an und des Sommers gehſt du umher und ſucheſt nach Schnee; kein Bett kann dir weichlich genug ſeyn, deine Freunde läßeſt du die Nächte durchpraſſen und den beſten Theil des Tages ver¬ ſchlafen: darum hüpfen ſie auch ſorgenlos und geputzt durch die Jugend dahin, und ſchleppen ſich mühſelig und im Schmutze durch das Alter, beſchämt über das was ſie gethan, und faſt erliegend unter der Laſt deſſen, was ſie thun müſſen. Und du ſelbſt, obwohl unſterblich, biſt gleich¬ wohl von den Göttern verſtoßen und von guten Menſchen verachtet. Was dem Ohre am lieblichſten klingt, dein eigenes Lob, haſt du nie gehört; was das Auge mehr als Alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, haſt du nie geſehen. — Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit allen guten Menſchen Verkehr. An mir haben die Künſt¬ ler eine willkommene Gehülfin, an mir die Hausväter eine treue Wächterin, an mir hat das Geſinde einen liebreichen Beiſtand. Ich bin eine redliche Theilnehmerin an den Geſchäften des Friedens, eine zuverläßige Mit¬ kämpferin im Kriege, die treueſte Genoſſin der Freund¬ ſchaft. Speiſe, Trank und Schlaf ſchmeckt meinen Freun¬ den beſſer als den Trägen. Die Jüngeren freuen ſich des Beifalls der Alten, die Aelteren der Ehre bei den Jungen; mit Vergnügen erinnern ſie ſich an ihre frühe¬ ren Handlungen und fühlen ſich bei ihrem jetzigen Thun
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0233"n="207"/>
zeſten und bequemſten Pfade zur Seligkeit leiten.“—<lb/>„Elende,“ erwiederte die Tugend, „wie kannſt du etwas<lb/>
Gutes beſitzen? oder welches Vergnügen kennſt du, die du<lb/>
jeder Luſt durch Sättigung zuvorkommſt? Du ißeſt, ehe<lb/>
dich hungert, und trinkeſt, ehe dich dürſtet. Um die Eßluſt<lb/>
zu reizen, ſuchſt du Köche auf, um mit Luſt zu trinken,<lb/>ſchaffſt du dir koſtbare Weine an und des Sommers<lb/>
gehſt du umher und ſucheſt nach Schnee; kein Bett kann<lb/>
dir weichlich genug ſeyn, deine Freunde läßeſt du die<lb/>
Nächte durchpraſſen und den beſten Theil des Tages ver¬<lb/>ſchlafen: darum hüpfen ſie auch ſorgenlos und geputzt<lb/>
durch die Jugend dahin, und ſchleppen ſich mühſelig und<lb/>
im Schmutze durch das Alter, beſchämt über das was<lb/>ſie gethan, und faſt erliegend unter der Laſt deſſen, was ſie<lb/>
thun müſſen. Und du ſelbſt, obwohl unſterblich, biſt gleich¬<lb/>
wohl von den Göttern verſtoßen und von guten Menſchen<lb/>
verachtet. Was dem Ohre am lieblichſten klingt, dein<lb/>
eigenes Lob, haſt du nie gehört; was das Auge mehr<lb/>
als Alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, haſt du nie<lb/>
geſehen. — Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit<lb/>
allen guten Menſchen Verkehr. An mir haben die Künſt¬<lb/>
ler eine willkommene Gehülfin, an mir die Hausväter<lb/>
eine treue Wächterin, an mir hat das Geſinde einen<lb/>
liebreichen Beiſtand. Ich bin eine redliche Theilnehmerin<lb/>
an den Geſchäften des Friedens, eine zuverläßige Mit¬<lb/>
kämpferin im Kriege, die treueſte Genoſſin der Freund¬<lb/>ſchaft. Speiſe, Trank und Schlaf ſchmeckt meinen Freun¬<lb/>
den beſſer als den Trägen. Die Jüngeren freuen ſich<lb/>
des Beifalls der Alten, die Aelteren der Ehre bei den<lb/>
Jungen; mit Vergnügen erinnern ſie ſich an ihre frühe¬<lb/>
ren Handlungen und fühlen ſich bei ihrem jetzigen Thun<lb/></p><p></p></div></div></div></body></text></TEI>
[207/0233]
zeſten und bequemſten Pfade zur Seligkeit leiten.“ —
„Elende,“ erwiederte die Tugend, „wie kannſt du etwas
Gutes beſitzen? oder welches Vergnügen kennſt du, die du
jeder Luſt durch Sättigung zuvorkommſt? Du ißeſt, ehe
dich hungert, und trinkeſt, ehe dich dürſtet. Um die Eßluſt
zu reizen, ſuchſt du Köche auf, um mit Luſt zu trinken,
ſchaffſt du dir koſtbare Weine an und des Sommers
gehſt du umher und ſucheſt nach Schnee; kein Bett kann
dir weichlich genug ſeyn, deine Freunde läßeſt du die
Nächte durchpraſſen und den beſten Theil des Tages ver¬
ſchlafen: darum hüpfen ſie auch ſorgenlos und geputzt
durch die Jugend dahin, und ſchleppen ſich mühſelig und
im Schmutze durch das Alter, beſchämt über das was
ſie gethan, und faſt erliegend unter der Laſt deſſen, was ſie
thun müſſen. Und du ſelbſt, obwohl unſterblich, biſt gleich¬
wohl von den Göttern verſtoßen und von guten Menſchen
verachtet. Was dem Ohre am lieblichſten klingt, dein
eigenes Lob, haſt du nie gehört; was das Auge mehr
als Alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, haſt du nie
geſehen. — Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit
allen guten Menſchen Verkehr. An mir haben die Künſt¬
ler eine willkommene Gehülfin, an mir die Hausväter
eine treue Wächterin, an mir hat das Geſinde einen
liebreichen Beiſtand. Ich bin eine redliche Theilnehmerin
an den Geſchäften des Friedens, eine zuverläßige Mit¬
kämpferin im Kriege, die treueſte Genoſſin der Freund¬
ſchaft. Speiſe, Trank und Schlaf ſchmeckt meinen Freun¬
den beſſer als den Trägen. Die Jüngeren freuen ſich
des Beifalls der Alten, die Aelteren der Ehre bei den
Jungen; mit Vergnügen erinnern ſie ſich an ihre frühe¬
ren Handlungen und fühlen ſich bei ihrem jetzigen Thun
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/233>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.