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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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hoher Gestalt auf sich zu kommen. Die eine zeigte in
ihrem ganzen Wesen Anstand und Adel, ihren Leib schmückte
Reinlichkeit, ihr Blick war bescheiden, ihre Haltung sitt¬
sam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die Andere war wohl¬
genährt und von schwellender Fülle, das Weiß und Roth
ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe ge¬
hoben, ihre Haltung so, daß sie aufrechter schien als von
Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug so ge¬
wählt, daß ihre Reize soviel möglich durchschimmerten.
Sie warf feurige Blicke auf sich selbst, sah dann wieder
um sich: ob nicht auch andere sie erblickten; und oft
schaute sie nach ihrem eigenen Schatten. Als Beide nä¬
her kamen, ging die Erstere ruhig ihren Gang fort, die
Andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüng¬
ling zu und redete ihn an: "Herkules! ich sehe, daß du
unschlüssig bist, welchen Weg durch das Leben du einschla¬
gen sollst. Willst du nun mich zur Freundin wählen,
so werde ich dich die angenehmste und gemächlichste Straße
führen: keine Lust sollst du ungekostet lassen, jede Unan¬
nehmlichkeit sollst du vermeiden. Um Kriege und Ge¬
schäfte hast du dich nicht zu bekümmern, darfst nur dar¬
auf bedacht seyn, mit den köstlichsten Speisen und Ge¬
tränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übri¬
gen Sinne durch die angenehmsten Empfindungen zu er¬
götzen, auf einem weichen Lager zu schlafen und den Ge¬
nuß aller dieser Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu ver¬
schaffen. Solltest du jemals um die Mittel dazu verle¬
gen seyn, so fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder
geistige Anstrengungen aufbürden werde, im Gegentheil,
du wirst nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen
und nichts auszuschlagen haben, was dir Gewinn bringen

hoher Geſtalt auf ſich zu kommen. Die eine zeigte in
ihrem ganzen Weſen Anſtand und Adel, ihren Leib ſchmückte
Reinlichkeit, ihr Blick war beſcheiden, ihre Haltung ſitt¬
ſam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die Andere war wohl¬
genährt und von ſchwellender Fülle, das Weiß und Roth
ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe ge¬
hoben, ihre Haltung ſo, daß ſie aufrechter ſchien als von
Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug ſo ge¬
wählt, daß ihre Reize ſoviel möglich durchſchimmerten.
Sie warf feurige Blicke auf ſich ſelbſt, ſah dann wieder
um ſich: ob nicht auch andere ſie erblickten; und oft
ſchaute ſie nach ihrem eigenen Schatten. Als Beide nä¬
her kamen, ging die Erſtere ruhig ihren Gang fort, die
Andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüng¬
ling zu und redete ihn an: „Herkules! ich ſehe, daß du
unſchlüſſig biſt, welchen Weg durch das Leben du einſchla¬
gen ſollſt. Willſt du nun mich zur Freundin wählen,
ſo werde ich dich die angenehmſte und gemächlichſte Straße
führen: keine Luſt ſollſt du ungekoſtet laſſen, jede Unan¬
nehmlichkeit ſollſt du vermeiden. Um Kriege und Ge¬
ſchäfte haſt du dich nicht zu bekümmern, darfſt nur dar¬
auf bedacht ſeyn, mit den köſtlichſten Speiſen und Ge¬
tränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übri¬
gen Sinne durch die angenehmſten Empfindungen zu er¬
götzen, auf einem weichen Lager zu ſchlafen und den Ge¬
nuß aller dieſer Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu ver¬
ſchaffen. Sollteſt du jemals um die Mittel dazu verle¬
gen ſeyn, ſo fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder
geiſtige Anſtrengungen aufbürden werde, im Gegentheil,
du wirſt nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen
und nichts auszuſchlagen haben, was dir Gewinn bringen

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[205/0231] hoher Geſtalt auf ſich zu kommen. Die eine zeigte in ihrem ganzen Weſen Anſtand und Adel, ihren Leib ſchmückte Reinlichkeit, ihr Blick war beſcheiden, ihre Haltung ſitt¬ ſam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die Andere war wohl¬ genährt und von ſchwellender Fülle, das Weiß und Roth ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe ge¬ hoben, ihre Haltung ſo, daß ſie aufrechter ſchien als von Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug ſo ge¬ wählt, daß ihre Reize ſoviel möglich durchſchimmerten. Sie warf feurige Blicke auf ſich ſelbſt, ſah dann wieder um ſich: ob nicht auch andere ſie erblickten; und oft ſchaute ſie nach ihrem eigenen Schatten. Als Beide nä¬ her kamen, ging die Erſtere ruhig ihren Gang fort, die Andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüng¬ ling zu und redete ihn an: „Herkules! ich ſehe, daß du unſchlüſſig biſt, welchen Weg durch das Leben du einſchla¬ gen ſollſt. Willſt du nun mich zur Freundin wählen, ſo werde ich dich die angenehmſte und gemächlichſte Straße führen: keine Luſt ſollſt du ungekoſtet laſſen, jede Unan¬ nehmlichkeit ſollſt du vermeiden. Um Kriege und Ge¬ ſchäfte haſt du dich nicht zu bekümmern, darfſt nur dar¬ auf bedacht ſeyn, mit den köſtlichſten Speiſen und Ge¬ tränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übri¬ gen Sinne durch die angenehmſten Empfindungen zu er¬ götzen, auf einem weichen Lager zu ſchlafen und den Ge¬ nuß aller dieſer Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu ver¬ ſchaffen. Sollteſt du jemals um die Mittel dazu verle¬ gen ſeyn, ſo fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder geiſtige Anſtrengungen aufbürden werde, im Gegentheil, du wirſt nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen und nichts auszuſchlagen haben, was dir Gewinn bringen

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/231>, abgerufen am 24.11.2024.