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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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tona, der Tod dieser Sieben wirft mich in die Grube;
triumphire, siegende Feindin!"

Jetzt waren auch ihre sieben Töchter, schon in Trauer¬
gewande gekleidet, herbeigekommen und standen mit flie¬
genden Haaren um die gefallenen Brüder her. Ein
Strahl der Schadenfreude zückte bei ihrem Anblick über
Niobe's blasses Gesicht. Sie vergaß sich, warf einen
spottenden Blick gen Himmel und sagte: "Siegerin!
nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr, als dir
in deinem Glück. Auch nach so vielen Leichen bin ich
noch die Siegerin!" Kaum hatte sie's gesprochen, als
man eine Sehne ertönen hörte, wie von einem straff an¬
gezogenen Bogen. Alles erschrack, nur Niobe bebte nicht,
das Unglück hatte sie beherzt gemacht. Da fuhr plötzlich
eine der Schwestern mit der Hand ans Herz; sie zog
einen Pfeil heraus, der ihr im Innersten haftete. Ohn¬
mächtig zu Boden gesunken, neigte sie ihr sterbendes Ant¬
litz über den nächstgelegenen Bruder. Eine andere Schwe¬
ster eilt auf die unglückselige Mutter zu, sie zu trösten;
aber von einer verborgenen Wunde gebeugt, verstummt
sie plötzlich. Eine dritte sinkt im Fliehen zu Boden, an¬
dere fallen, über die sterbenden Schwestern hingeneigt.
Nur die letzte war noch übrig, die sich in den Schooß
der Mutter geflüchtet und an diese, von ihrem faltigen
Gewande zugedeckt, sich kindisch anschmiegte. "Nur die
Einzige laßt mir," schrie Niobe wehklagend zum Himmel,
"nur die Jüngste von so Vielen!" Aber während sie
noch flehte, stürzte schon das Kind aus ihrem Schooße
nieder und einsam saß Niobe zwischen ihres Gatten, ihrer
Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erstarrte sie vor
Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes;

tona, der Tod dieſer Sieben wirft mich in die Grube;
triumphire, ſiegende Feindin!“

Jetzt waren auch ihre ſieben Töchter, ſchon in Trauer¬
gewande gekleidet, herbeigekommen und ſtanden mit flie¬
genden Haaren um die gefallenen Brüder her. Ein
Strahl der Schadenfreude zückte bei ihrem Anblick über
Niobe's blaſſes Geſicht. Sie vergaß ſich, warf einen
ſpottenden Blick gen Himmel und ſagte: „Siegerin!
nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr, als dir
in deinem Glück. Auch nach ſo vielen Leichen bin ich
noch die Siegerin!“ Kaum hatte ſie's geſprochen, als
man eine Sehne ertönen hörte, wie von einem ſtraff an¬
gezogenen Bogen. Alles erſchrack, nur Niobe bebte nicht,
das Unglück hatte ſie beherzt gemacht. Da fuhr plötzlich
eine der Schweſtern mit der Hand ans Herz; ſie zog
einen Pfeil heraus, der ihr im Innerſten haftete. Ohn¬
mächtig zu Boden geſunken, neigte ſie ihr ſterbendes Ant¬
litz über den nächſtgelegenen Bruder. Eine andere Schwe¬
ſter eilt auf die unglückſelige Mutter zu, ſie zu tröſten;
aber von einer verborgenen Wunde gebeugt, verſtummt
ſie plötzlich. Eine dritte ſinkt im Fliehen zu Boden, an¬
dere fallen, über die ſterbenden Schweſtern hingeneigt.
Nur die letzte war noch übrig, die ſich in den Schooß
der Mutter geflüchtet und an dieſe, von ihrem faltigen
Gewande zugedeckt, ſich kindiſch anſchmiegte. „Nur die
Einzige laßt mir,“ ſchrie Niobe wehklagend zum Himmel,
„nur die Jüngſte von ſo Vielen!“ Aber während ſie
noch flehte, ſtürzte ſchon das Kind aus ihrem Schooße
nieder und einſam ſaß Niobe zwiſchen ihres Gatten, ihrer
Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erſtarrte ſie vor
Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes;

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[196/0222] tona, der Tod dieſer Sieben wirft mich in die Grube; triumphire, ſiegende Feindin!“ Jetzt waren auch ihre ſieben Töchter, ſchon in Trauer¬ gewande gekleidet, herbeigekommen und ſtanden mit flie¬ genden Haaren um die gefallenen Brüder her. Ein Strahl der Schadenfreude zückte bei ihrem Anblick über Niobe's blaſſes Geſicht. Sie vergaß ſich, warf einen ſpottenden Blick gen Himmel und ſagte: „Siegerin! nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr, als dir in deinem Glück. Auch nach ſo vielen Leichen bin ich noch die Siegerin!“ Kaum hatte ſie's geſprochen, als man eine Sehne ertönen hörte, wie von einem ſtraff an¬ gezogenen Bogen. Alles erſchrack, nur Niobe bebte nicht, das Unglück hatte ſie beherzt gemacht. Da fuhr plötzlich eine der Schweſtern mit der Hand ans Herz; ſie zog einen Pfeil heraus, der ihr im Innerſten haftete. Ohn¬ mächtig zu Boden geſunken, neigte ſie ihr ſterbendes Ant¬ litz über den nächſtgelegenen Bruder. Eine andere Schwe¬ ſter eilt auf die unglückſelige Mutter zu, ſie zu tröſten; aber von einer verborgenen Wunde gebeugt, verſtummt ſie plötzlich. Eine dritte ſinkt im Fliehen zu Boden, an¬ dere fallen, über die ſterbenden Schweſtern hingeneigt. Nur die letzte war noch übrig, die ſich in den Schooß der Mutter geflüchtet und an dieſe, von ihrem faltigen Gewande zugedeckt, ſich kindiſch anſchmiegte. „Nur die Einzige laßt mir,“ ſchrie Niobe wehklagend zum Himmel, „nur die Jüngſte von ſo Vielen!“ Aber während ſie noch flehte, ſtürzte ſchon das Kind aus ihrem Schooße nieder und einſam ſaß Niobe zwiſchen ihres Gatten, ihrer Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erſtarrte ſie vor Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes;

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/222>, abgerufen am 28.11.2024.