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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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zu der armen Zwillingszahl Latonens heruntersinken.
Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren
mit dem Lorbeer! Zerstreuet euch in eure Häuser und laßt
euch nicht wieder über so thörichtem Beginnen treffen!"

Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom
Haupte, ließen die Opfer unvollendet und schlichen nach
Hause, mit stillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.

Auf dem Gipfel des delischen Berges Cynthus stand
mit ihren Zwillingen Latona und schaute mit ihrem Göt¬
terauge, was in dem fernen Theben vorging. "Seht,
Kinder; ich, eure Mutter, die auf eure Geburt so stolz
ist, die keiner Göttin außer Juno weicht, werde von einer
frechen Sterblichen geschmäht, ich werde von den alten heiligen
Altären hinweggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine
Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beschimpft, werdet
ihrem Kinderhaufen von ihr nachgesetzt!" Latona wollte zu
ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbus unter¬
brach sie und sprach: "Laß die Klage, Mutter, sie hält die Strafe
nur auf!" Ihm stimmte seine Schwester bei: beide hüllten
sich in eine Wolkendecke und mit einem raschen Schwung
durch die Lüfte hatten sie die Stadt und Burg des Kad¬
mus erreicht. Hier breitete sich vor den Mauern ein ge¬
räumiges Brachfeld aus, das nicht für die Saat bestimmt,
sondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wa¬
gen gewidmet war. Da belustigten sich eben die sieben
Söhne Amphions: die einen bestiegen muthige Rosse,
die andern erfreuten sich des Ringspieles. Der Älteste,
Ismenos, trieb eben sein Thier im Viertelstrabe sicher
im Kreise um, den schäumenden Rachen ihm bändigend,
als er plötzlich: wehe mir! ausrief, den Zaum aus den
erschlaffenden Händen fahren ließ, und einen Pfeil mitten

Schwab, das klass. Alterthum. I. 13

zu der armen Zwillingszahl Latonens herunterſinken.
Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren
mit dem Lorbeer! Zerſtreuet euch in eure Häuſer und laßt
euch nicht wieder über ſo thörichtem Beginnen treffen!“

Erſchrocken nahmen die Frauen die Kränze vom
Haupte, ließen die Opfer unvollendet und ſchlichen nach
Hauſe, mit ſtillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.

Auf dem Gipfel des deliſchen Berges Cynthus ſtand
mit ihren Zwillingen Latona und ſchaute mit ihrem Göt¬
terauge, was in dem fernen Theben vorging. „Seht,
Kinder; ich, eure Mutter, die auf eure Geburt ſo ſtolz
iſt, die keiner Göttin außer Juno weicht, werde von einer
frechen Sterblichen geſchmäht, ich werde von den alten heiligen
Altären hinweggeſtoßen, wenn ihr mir nicht beiſteht, meine
Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beſchimpft, werdet
ihrem Kinderhaufen von ihr nachgeſetzt!“ Latona wollte zu
ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbus unter¬
brach ſie und ſprach: „Laß die Klage, Mutter, ſie hält die Strafe
nur auf!“ Ihm ſtimmte ſeine Schweſter bei: beide hüllten
ſich in eine Wolkendecke und mit einem raſchen Schwung
durch die Lüfte hatten ſie die Stadt und Burg des Kad¬
mus erreicht. Hier breitete ſich vor den Mauern ein ge¬
räumiges Brachfeld aus, das nicht für die Saat beſtimmt,
ſondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wa¬
gen gewidmet war. Da beluſtigten ſich eben die ſieben
Söhne Amphions: die einen beſtiegen muthige Roſſe,
die andern erfreuten ſich des Ringſpieles. Der Älteſte,
Ismenos, trieb eben ſein Thier im Viertelstrabe ſicher
im Kreiſe um, den ſchäumenden Rachen ihm bändigend,
als er plötzlich: wehe mir! ausrief, den Zaum aus den
erſchlaffenden Händen fahren ließ, und einen Pfeil mitten

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 13
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[193/0219] zu der armen Zwillingszahl Latonens herunterſinken. Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren mit dem Lorbeer! Zerſtreuet euch in eure Häuſer und laßt euch nicht wieder über ſo thörichtem Beginnen treffen!“ Erſchrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupte, ließen die Opfer unvollendet und ſchlichen nach Hauſe, mit ſtillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend. Auf dem Gipfel des deliſchen Berges Cynthus ſtand mit ihren Zwillingen Latona und ſchaute mit ihrem Göt¬ terauge, was in dem fernen Theben vorging. „Seht, Kinder; ich, eure Mutter, die auf eure Geburt ſo ſtolz iſt, die keiner Göttin außer Juno weicht, werde von einer frechen Sterblichen geſchmäht, ich werde von den alten heiligen Altären hinweggeſtoßen, wenn ihr mir nicht beiſteht, meine Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beſchimpft, werdet ihrem Kinderhaufen von ihr nachgeſetzt!“ Latona wollte zu ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbus unter¬ brach ſie und ſprach: „Laß die Klage, Mutter, ſie hält die Strafe nur auf!“ Ihm ſtimmte ſeine Schweſter bei: beide hüllten ſich in eine Wolkendecke und mit einem raſchen Schwung durch die Lüfte hatten ſie die Stadt und Burg des Kad¬ mus erreicht. Hier breitete ſich vor den Mauern ein ge¬ räumiges Brachfeld aus, das nicht für die Saat beſtimmt, ſondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wa¬ gen gewidmet war. Da beluſtigten ſich eben die ſieben Söhne Amphions: die einen beſtiegen muthige Roſſe, die andern erfreuten ſich des Ringſpieles. Der Älteſte, Ismenos, trieb eben ſein Thier im Viertelstrabe ſicher im Kreiſe um, den ſchäumenden Rachen ihm bändigend, als er plötzlich: wehe mir! ausrief, den Zaum aus den erſchlaffenden Händen fahren ließ, und einen Pfeil mitten Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 13

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/219>, abgerufen am 24.11.2024.