aus Arkadien, die Tochter des Jasion. In einem Walde ausgesetzt, von einer Bärin gesäugt, von Jägern gefun¬ den und erzogen, brachte die schöne Männerfeindin ihr Leben im Walde zu und lebte von der Jagd. Alle Män¬ ner wehrte sie von sich ab, und zwei Centauren, die ihr in dieser Einsamkeit nachstellten, hatte sie mit ihren Pfeilen erlegt. Jetzt lockte sie die Liebe zur Jagd hervor in die Gemeinschaft der Helden. Sie kam, ihr einfaches Haar in einen einzelnen Knoten gebunden, über den Schultern hing ihr der elfenbeinerne Köcher, die Linke hielt den Bogen; ihr Antlitz wäre an Knaben ein Jung¬ ferngesicht, an Jungfrauen ein Knabengesicht gewesen. Als Meleager sie in ihrer Schönheit erblickte, sprach er bei sich selbst: "Glücklich der Mann, den diese würdiget, ihr Gatte zu seyn!" Mehr zu denken erlaubte ihm die Zeit nicht, denn die gefährliche Jagd durfte nicht länger aufgeschoben werden.
Die Schaar der Jäger ging einem Gehölze mit ur¬ alten Stämmen zu, das, in der Ebene anfangend, sich einen Bergesabhang hinanzog. Als die Männer hier an¬ gekommen waren, stellten die Einen Netze, die Andern ließen die Hunde von der Fessel los, wieder Andere folg¬ ten schon der Fährte. Bald gelangte man in ein ab¬ schüssiges Thal, das die geschwollenen Waldbäche ausge¬ hölt; Binsen, Sumpfgras, Weidengebüsch und Schilfrohr wucherten unten im Abgrunde. Hier hatte das Schwein im Verstecke gelegen und, von den Hunden aufgejagt, durchbrach es das Gehölz, wie ein Blitzstrahl die Wetter¬ wolke, und stürzte sich wüthend mitten unter die Feinde. Die Jünglinge schrieen laut auf und hielten ihm die eisernen Spitzen ihrer Speere vor; aber der Eber wich
aus Arkadien, die Tochter des Jaſion. In einem Walde ausgeſetzt, von einer Bärin geſäugt, von Jägern gefun¬ den und erzogen, brachte die ſchöne Männerfeindin ihr Leben im Walde zu und lebte von der Jagd. Alle Män¬ ner wehrte ſie von ſich ab, und zwei Centauren, die ihr in dieſer Einſamkeit nachſtellten, hatte ſie mit ihren Pfeilen erlegt. Jetzt lockte ſie die Liebe zur Jagd hervor in die Gemeinſchaft der Helden. Sie kam, ihr einfaches Haar in einen einzelnen Knoten gebunden, über den Schultern hing ihr der elfenbeinerne Köcher, die Linke hielt den Bogen; ihr Antlitz wäre an Knaben ein Jung¬ ferngeſicht, an Jungfrauen ein Knabengeſicht geweſen. Als Meleager ſie in ihrer Schönheit erblickte, ſprach er bei ſich ſelbſt: „Glücklich der Mann, den dieſe würdiget, ihr Gatte zu ſeyn!“ Mehr zu denken erlaubte ihm die Zeit nicht, denn die gefährliche Jagd durfte nicht länger aufgeſchoben werden.
Die Schaar der Jäger ging einem Gehölze mit ur¬ alten Stämmen zu, das, in der Ebene anfangend, ſich einen Bergesabhang hinanzog. Als die Männer hier an¬ gekommen waren, ſtellten die Einen Netze, die Andern ließen die Hunde von der Feſſel los, wieder Andere folg¬ ten ſchon der Fährte. Bald gelangte man in ein ab¬ ſchüſſiges Thal, das die geſchwollenen Waldbäche ausge¬ hölt; Binſen, Sumpfgras, Weidengebüſch und Schilfrohr wucherten unten im Abgrunde. Hier hatte das Schwein im Verſtecke gelegen und, von den Hunden aufgejagt, durchbrach es das Gehölz, wie ein Blitzſtrahl die Wetter¬ wolke, und ſtürzte ſich wüthend mitten unter die Feinde. Die Jünglinge ſchrieen laut auf und hielten ihm die eiſernen Spitzen ihrer Speere vor; aber der Eber wich
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aus Arkadien, die Tochter des Jaſion. In einem Walde
ausgeſetzt, von einer Bärin geſäugt, von Jägern gefun¬
den und erzogen, brachte die ſchöne Männerfeindin ihr
Leben im Walde zu und lebte von der Jagd. Alle Män¬
ner wehrte ſie von ſich ab, und zwei Centauren, die ihr
in dieſer Einſamkeit nachſtellten, hatte ſie mit ihren
Pfeilen erlegt. Jetzt lockte ſie die Liebe zur Jagd hervor
in die Gemeinſchaft der Helden. Sie kam, ihr einfaches
Haar in einen einzelnen Knoten gebunden, über den
Schultern hing ihr der elfenbeinerne Köcher, die Linke
hielt den Bogen; ihr Antlitz wäre an Knaben ein Jung¬
ferngeſicht, an Jungfrauen ein Knabengeſicht geweſen.
Als Meleager ſie in ihrer Schönheit erblickte, ſprach er
bei ſich ſelbſt: „Glücklich der Mann, den dieſe würdiget,
ihr Gatte zu ſeyn!“ Mehr zu denken erlaubte ihm die
Zeit nicht, denn die gefährliche Jagd durfte nicht länger
aufgeſchoben werden.
Die Schaar der Jäger ging einem Gehölze mit ur¬
alten Stämmen zu, das, in der Ebene anfangend, ſich
einen Bergesabhang hinanzog. Als die Männer hier an¬
gekommen waren, ſtellten die Einen Netze, die Andern
ließen die Hunde von der Feſſel los, wieder Andere folg¬
ten ſchon der Fährte. Bald gelangte man in ein ab¬
ſchüſſiges Thal, das die geſchwollenen Waldbäche ausge¬
hölt; Binſen, Sumpfgras, Weidengebüſch und Schilfrohr
wucherten unten im Abgrunde. Hier hatte das Schwein
im Verſtecke gelegen und, von den Hunden aufgejagt,
durchbrach es das Gehölz, wie ein Blitzſtrahl die Wetter¬
wolke, und ſtürzte ſich wüthend mitten unter die Feinde.
Die Jünglinge ſchrieen laut auf und hielten ihm die
eiſernen Spitzen ihrer Speere vor; aber der Eber wich
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/206>, abgerufen am 22.11.2024.
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