Händen haltend, schoß er silberne Lichtpfeile über die Ge¬ gend hin. In dem plötzlichen Lichtglanze zeigte sich ihnen eine kleine Insel, auf welche sie zusteuerten und wo, vor Anker gelegt, sie die tröstliche Morgenröthe erwarteten. Als sie wieder im heitersten Sonnenlichte auf der hohen See da¬ hin fuhren, da gedachte der Held Euphemus eines nächtlichen Traumes. Ihm hatte gedäucht, die Erdscholle des Triton, die er an der Brust liegen hatte, beginne sich zu beleben, und aus seinem Busen zu rollen, dann gestalte sie sich zu einem Jungfrauenbilde, das sprach: "Ich bin die Toch¬ ter des Triton und der Libya, vertraue mich den Töch¬ tern des Nereus an, daß ich im Meere wohne bei Anaphe; dann werde ich wieder ans Sonnenlicht hervor¬ kommen und deinen Enkeln bestimmt seyn." An diesen Traum erinnerte sich jetzt Euphemus, denn Anaphe hatte die Insel geheißen, bei der sie den Morgen erwartet hatten. Jason, dem der Held den Traum erzählte, ver¬ stand seinen Sinn alsbald: er rieth dem Freunde, die Erdscholle, die er auf dem Herzen trug, in die See zu werfen. Dieser that es und siehe da, vor den Augen der Schiffenden erwuchs aus dem Meeresgrund eine blü¬ hende Insel mit fruchtbarem Rücken. Man nannte sie Kalliste, d. h. die Schönste, und Euphemus bevölkerte sie in der Folge mit seinen Kindern.
Dies war das letzte Wunder das die Helden erleb¬ ten. Bald darauf nahm sie die Insel Aegina auf. Von dort der Heimat zusteuernd, lief ohne weiteren Unfall das Schiff Argo, mit seinen Helden, glücklich in den Hafen von Jolkos ein. Jason weihte das Schiff auf der corinthischen Meerenge dem Neptunus, und als es längst in Staub zerfallen war, glänzte es, in den Him¬
Händen haltend, ſchoß er ſilberne Lichtpfeile über die Ge¬ gend hin. In dem plötzlichen Lichtglanze zeigte ſich ihnen eine kleine Inſel, auf welche ſie zuſteuerten und wo, vor Anker gelegt, ſie die tröſtliche Morgenröthe erwarteten. Als ſie wieder im heiterſten Sonnenlichte auf der hohen See da¬ hin fuhren, da gedachte der Held Euphemus eines nächtlichen Traumes. Ihm hatte gedäucht, die Erdſcholle des Triton, die er an der Bruſt liegen hatte, beginne ſich zu beleben, und aus ſeinem Buſen zu rollen, dann geſtalte ſie ſich zu einem Jungfrauenbilde, das ſprach: „Ich bin die Toch¬ ter des Triton und der Libya, vertraue mich den Töch¬ tern des Nereus an, daß ich im Meere wohne bei Anaphe; dann werde ich wieder ans Sonnenlicht hervor¬ kommen und deinen Enkeln beſtimmt ſeyn.“ An dieſen Traum erinnerte ſich jetzt Euphemus, denn Anaphe hatte die Inſel geheißen, bei der ſie den Morgen erwartet hatten. Jaſon, dem der Held den Traum erzählte, ver¬ ſtand ſeinen Sinn alsbald: er rieth dem Freunde, die Erdſcholle, die er auf dem Herzen trug, in die See zu werfen. Dieſer that es und ſiehe da, vor den Augen der Schiffenden erwuchs aus dem Meeresgrund eine blü¬ hende Inſel mit fruchtbarem Rücken. Man nannte ſie Kalliſte, d. h. die Schönſte, und Euphemus bevölkerte ſie in der Folge mit ſeinen Kindern.
Dies war das letzte Wunder das die Helden erleb¬ ten. Bald darauf nahm ſie die Inſel Aegina auf. Von dort der Heimat zuſteuernd, lief ohne weiteren Unfall das Schiff Argo, mit ſeinen Helden, glücklich in den Hafen von Jolkos ein. Jaſon weihte das Schiff auf der corinthiſchen Meerenge dem Neptunus, und als es längſt in Staub zerfallen war, glänzte es, in den Him¬
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Händen haltend, ſchoß er ſilberne Lichtpfeile über die Ge¬
gend hin. In dem plötzlichen Lichtglanze zeigte ſich ihnen
eine kleine Inſel, auf welche ſie zuſteuerten und wo, vor
Anker gelegt, ſie die tröſtliche Morgenröthe erwarteten. Als
ſie wieder im heiterſten Sonnenlichte auf der hohen See da¬
hin fuhren, da gedachte der Held Euphemus eines nächtlichen
Traumes. Ihm hatte gedäucht, die Erdſcholle des Triton,
die er an der Bruſt liegen hatte, beginne ſich zu beleben,
und aus ſeinem Buſen zu rollen, dann geſtalte ſie ſich zu
einem Jungfrauenbilde, das ſprach: „Ich bin die Toch¬
ter des Triton und der Libya, vertraue mich den Töch¬
tern des Nereus an, daß ich im Meere wohne bei
Anaphe; dann werde ich wieder ans Sonnenlicht hervor¬
kommen und deinen Enkeln beſtimmt ſeyn.“ An dieſen
Traum erinnerte ſich jetzt Euphemus, denn Anaphe hatte
die Inſel geheißen, bei der ſie den Morgen erwartet
hatten. Jaſon, dem der Held den Traum erzählte, ver¬
ſtand ſeinen Sinn alsbald: er rieth dem Freunde, die
Erdſcholle, die er auf dem Herzen trug, in die See zu
werfen. Dieſer that es und ſiehe da, vor den Augen
der Schiffenden erwuchs aus dem Meeresgrund eine blü¬
hende Inſel mit fruchtbarem Rücken. Man nannte ſie
Kalliſte, d. h. die Schönſte, und Euphemus bevölkerte
ſie in der Folge mit ſeinen Kindern.
Dies war das letzte Wunder das die Helden erleb¬
ten. Bald darauf nahm ſie die Inſel Aegina auf. Von
dort der Heimat zuſteuernd, lief ohne weiteren Unfall
das Schiff Argo, mit ſeinen Helden, glücklich in den
Hafen von Jolkos ein. Jaſon weihte das Schiff auf
der corinthiſchen Meerenge dem Neptunus, und als es
längſt in Staub zerfallen war, glänzte es, in den Him¬
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/195>, abgerufen am 23.11.2024.
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