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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Hier fanden sie die Zaubergöttin, wie sie, am Meer¬
gestade stehend, ihr Haupt in den Wellen badete. Ihr
hatte geträumt, das Gemach und ganze Haus über¬
ströme von Blut, und die Flamme fresse alle Zaubermit¬
tel, mit welchen sie sonst die Fremdlinge behext hatte, sie
aber schöpfe mit hohler Hand das Blut und lösche das
Feuer damit. Dieser entsetzliche Traum hatte sie mit der
Morgenröthe vom Lager aufgeschreckt und ans Meeres¬
ufer getrieben, hier wusch sie Kleider und Haare, als ob
sie blutbefleckt wären. Ungeheure Bestien, nicht andern
Thieren ähnlich, sondern aus den verschiedensten Gliedern
zusammengesetzt, folgten ihr heerdenweise, wie das Vieh
dem Hirten aus dem Stalle. Die Helden ergriff entsetz¬
liches Grausen, zumal da sie der Circe nur ins Angesicht
zu sehen brauchten, um sich zu überzeugen, daß sie die
Schwester des grausamen Aeetes sey. Die Göttin, als
sie die nächtlichen Schrecken von sich entfernt hatte, kehrte
schnell wieder um, lockte den Thieren und streichelte sie,
wie man Hunde streichelt.

Jason hieß die ganze Mannschaft im Schiffe bleiben,
er selbst sprang mit Medea ans Land, und zog das wi¬
derstrebende Mädchen mit sich fort, Circe's Pallaste zu.
Circe wußte nicht, was die Fremden bei ihr suchten.
Sie hieß sie auf schönen Sesseln Platz nehmen. Jene
aber flüchteten still und traurig an den Heerd und ließen
sich dort nieder. Medea legte ihr Haupt in beide Hände,
und Jason stieß das Schwert, mit welchem er den Absyr¬
tus umgebracht hatte, in den Boden, legte die Hand auf
dasselbe und stützte sein Kinn darauf, ohne die Augen
aufzuschlagen. Da merkte Circe, daß es Schutzflehende
seyen und verstand sogleich, daß es sich um den Jammer

Hier fanden ſie die Zaubergöttin, wie ſie, am Meer¬
geſtade ſtehend, ihr Haupt in den Wellen badete. Ihr
hatte geträumt, das Gemach und ganze Haus über¬
ſtröme von Blut, und die Flamme freſſe alle Zaubermit¬
tel, mit welchen ſie ſonſt die Fremdlinge behext hatte, ſie
aber ſchöpfe mit hohler Hand das Blut und löſche das
Feuer damit. Dieſer entſetzliche Traum hatte ſie mit der
Morgenröthe vom Lager aufgeſchreckt und ans Meeres¬
ufer getrieben, hier wuſch ſie Kleider und Haare, als ob
ſie blutbefleckt wären. Ungeheure Beſtien, nicht andern
Thieren ähnlich, ſondern aus den verſchiedenſten Gliedern
zuſammengeſetzt, folgten ihr heerdenweiſe, wie das Vieh
dem Hirten aus dem Stalle. Die Helden ergriff entſetz¬
liches Grauſen, zumal da ſie der Circe nur ins Angeſicht
zu ſehen brauchten, um ſich zu überzeugen, daß ſie die
Schweſter des grauſamen Aeetes ſey. Die Göttin, als
ſie die nächtlichen Schrecken von ſich entfernt hatte, kehrte
ſchnell wieder um, lockte den Thieren und ſtreichelte ſie,
wie man Hunde ſtreichelt.

Jaſon hieß die ganze Mannſchaft im Schiffe bleiben,
er ſelbſt ſprang mit Medea ans Land, und zog das wi¬
derſtrebende Mädchen mit ſich fort, Circe's Pallaſte zu.
Circe wußte nicht, was die Fremden bei ihr ſuchten.
Sie hieß ſie auf ſchönen Seſſeln Platz nehmen. Jene
aber flüchteten ſtill und traurig an den Heerd und ließen
ſich dort nieder. Medea legte ihr Haupt in beide Hände,
und Jaſon ſtieß das Schwert, mit welchem er den Abſyr¬
tus umgebracht hatte, in den Boden, legte die Hand auf
daſſelbe und ſtützte ſein Kinn darauf, ohne die Augen
aufzuſchlagen. Da merkte Circe, daß es Schutzflehende
ſeyen und verſtand ſogleich, daß es ſich um den Jammer

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[156/0182] Hier fanden ſie die Zaubergöttin, wie ſie, am Meer¬ geſtade ſtehend, ihr Haupt in den Wellen badete. Ihr hatte geträumt, das Gemach und ganze Haus über¬ ſtröme von Blut, und die Flamme freſſe alle Zaubermit¬ tel, mit welchen ſie ſonſt die Fremdlinge behext hatte, ſie aber ſchöpfe mit hohler Hand das Blut und löſche das Feuer damit. Dieſer entſetzliche Traum hatte ſie mit der Morgenröthe vom Lager aufgeſchreckt und ans Meeres¬ ufer getrieben, hier wuſch ſie Kleider und Haare, als ob ſie blutbefleckt wären. Ungeheure Beſtien, nicht andern Thieren ähnlich, ſondern aus den verſchiedenſten Gliedern zuſammengeſetzt, folgten ihr heerdenweiſe, wie das Vieh dem Hirten aus dem Stalle. Die Helden ergriff entſetz¬ liches Grauſen, zumal da ſie der Circe nur ins Angeſicht zu ſehen brauchten, um ſich zu überzeugen, daß ſie die Schweſter des grauſamen Aeetes ſey. Die Göttin, als ſie die nächtlichen Schrecken von ſich entfernt hatte, kehrte ſchnell wieder um, lockte den Thieren und ſtreichelte ſie, wie man Hunde ſtreichelt. Jaſon hieß die ganze Mannſchaft im Schiffe bleiben, er ſelbſt ſprang mit Medea ans Land, und zog das wi¬ derſtrebende Mädchen mit ſich fort, Circe's Pallaſte zu. Circe wußte nicht, was die Fremden bei ihr ſuchten. Sie hieß ſie auf ſchönen Seſſeln Platz nehmen. Jene aber flüchteten ſtill und traurig an den Heerd und ließen ſich dort nieder. Medea legte ihr Haupt in beide Hände, und Jaſon ſtieß das Schwert, mit welchem er den Abſyr¬ tus umgebracht hatte, in den Boden, legte die Hand auf daſſelbe und ſtützte ſein Kinn darauf, ohne die Augen aufzuſchlagen. Da merkte Circe, daß es Schutzflehende ſeyen und verſtand ſogleich, daß es ſich um den Jammer

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/182>, abgerufen am 27.11.2024.