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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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süße Heimat, wie eine Gefangene fliehend den bittern
Kerker der Sklaverei verläßt. Die Pforten des Pallastes
thaten sich vor ihren Zaubersprüchen auf; durch enge
Seitenwege rannte sie mit bloßen Füßen, mit der Linken
den Schleier bis über die Wangen herunterziehend, mit
der Rechten ihr Nachtgewand vor der Befleckung des
Weges schützend. Bald war sie, unerkannt von den
Wächtern, draußen vor der Stadt und schlug einen Fu߬
pfad nach dem Tempel ein, denn als Zauberweib und
Gifttrankmischerin war sie vom Wurzelsuchen her aller
Wege des Feldes wohlkundig. Luna, welche sie so wan¬
deln sah, sprach zu sich selbst, lächelnd herniederscheinend:
"So quält denn doch nicht mich allein die Liebe zum
schönen Endymion! Oft hast du mich mit deinen Hexen¬
sprüchen vom Himmel hinweggezaubert: jetzt leidest du
selbst um einen Jason bittere Qualen. Nun, so geh nur,
aber, so schlau du bist, hoffe nicht, dem herbsten Schmerz
zu entfliehen!" So sprach Luna mit sich selber, jene
aber trugen ihre Füße eilig davon; endlich beugten ihre
Schritte gegen das Meeresufer ein, wo das Freuden¬
feuer, das die Helden wegen Jasons Siege die ganze
Nacht hindurch auflodern ließen, ihr zum Leitsterne dien¬
te. Dem Schiffe gegenüber angekommen, rief sie mit
lauter Stimme ihren jüngsten Schwestersohn Phrontis;
dieser, der mit Jason ihre Stimme erkannte, erwiederte
dreimal den dreifachen Ruf. Die Helden, die dieß mit
hörten, staunten Anfangs, dann ruderten sie ihr entgegen.
Ehe das Schiff ans jenseitige Ufer gebunden war, sprang
Jason vom Verdeck ans Land, Phrontis und Argos ihm
nach. "Rettet mich," rief das Mädchen, indem sie die
Knie ihrer Neffen umfaßte, "entreißt mich und euch mei¬

Schwab, das klass. Alterthum. I. 10

ſüße Heimat, wie eine Gefangene fliehend den bittern
Kerker der Sklaverei verläßt. Die Pforten des Pallaſtes
thaten ſich vor ihren Zauberſprüchen auf; durch enge
Seitenwege rannte ſie mit bloßen Füßen, mit der Linken
den Schleier bis über die Wangen herunterziehend, mit
der Rechten ihr Nachtgewand vor der Befleckung des
Weges ſchützend. Bald war ſie, unerkannt von den
Wächtern, draußen vor der Stadt und ſchlug einen Fu߬
pfad nach dem Tempel ein, denn als Zauberweib und
Gifttrankmiſcherin war ſie vom Wurzelſuchen her aller
Wege des Feldes wohlkundig. Luna, welche ſie ſo wan¬
deln ſah, ſprach zu ſich ſelbſt, lächelnd herniederſcheinend:
„So quält denn doch nicht mich allein die Liebe zum
ſchönen Endymion! Oft haſt du mich mit deinen Hexen¬
ſprüchen vom Himmel hinweggezaubert: jetzt leideſt du
ſelbſt um einen Jaſon bittere Qualen. Nun, ſo geh nur,
aber, ſo ſchlau du biſt, hoffe nicht, dem herbſten Schmerz
zu entfliehen!“ So ſprach Luna mit ſich ſelber, jene
aber trugen ihre Füße eilig davon; endlich beugten ihre
Schritte gegen das Meeresufer ein, wo das Freuden¬
feuer, das die Helden wegen Jaſons Siege die ganze
Nacht hindurch auflodern ließen, ihr zum Leitſterne dien¬
te. Dem Schiffe gegenüber angekommen, rief ſie mit
lauter Stimme ihren jüngſten Schweſterſohn Phrontis;
dieſer, der mit Jaſon ihre Stimme erkannte, erwiederte
dreimal den dreifachen Ruf. Die Helden, die dieß mit
hörten, ſtaunten Anfangs, dann ruderten ſie ihr entgegen.
Ehe das Schiff ans jenſeitige Ufer gebunden war, ſprang
Jaſon vom Verdeck ans Land, Phrontis und Argos ihm
nach. „Rettet mich,“ rief das Mädchen, indem ſie die
Knie ihrer Neffen umfaßte, „entreißt mich und euch mei¬

Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 10
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[145/0171] ſüße Heimat, wie eine Gefangene fliehend den bittern Kerker der Sklaverei verläßt. Die Pforten des Pallaſtes thaten ſich vor ihren Zauberſprüchen auf; durch enge Seitenwege rannte ſie mit bloßen Füßen, mit der Linken den Schleier bis über die Wangen herunterziehend, mit der Rechten ihr Nachtgewand vor der Befleckung des Weges ſchützend. Bald war ſie, unerkannt von den Wächtern, draußen vor der Stadt und ſchlug einen Fu߬ pfad nach dem Tempel ein, denn als Zauberweib und Gifttrankmiſcherin war ſie vom Wurzelſuchen her aller Wege des Feldes wohlkundig. Luna, welche ſie ſo wan¬ deln ſah, ſprach zu ſich ſelbſt, lächelnd herniederſcheinend: „So quält denn doch nicht mich allein die Liebe zum ſchönen Endymion! Oft haſt du mich mit deinen Hexen¬ ſprüchen vom Himmel hinweggezaubert: jetzt leideſt du ſelbſt um einen Jaſon bittere Qualen. Nun, ſo geh nur, aber, ſo ſchlau du biſt, hoffe nicht, dem herbſten Schmerz zu entfliehen!“ So ſprach Luna mit ſich ſelber, jene aber trugen ihre Füße eilig davon; endlich beugten ihre Schritte gegen das Meeresufer ein, wo das Freuden¬ feuer, das die Helden wegen Jaſons Siege die ganze Nacht hindurch auflodern ließen, ihr zum Leitſterne dien¬ te. Dem Schiffe gegenüber angekommen, rief ſie mit lauter Stimme ihren jüngſten Schweſterſohn Phrontis; dieſer, der mit Jaſon ihre Stimme erkannte, erwiederte dreimal den dreifachen Ruf. Die Helden, die dieß mit hörten, ſtaunten Anfangs, dann ruderten ſie ihr entgegen. Ehe das Schiff ans jenſeitige Ufer gebunden war, ſprang Jaſon vom Verdeck ans Land, Phrontis und Argos ihm nach. „Rettet mich,“ rief das Mädchen, indem ſie die Knie ihrer Neffen umfaßte, „entreißt mich und euch mei¬ Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 10

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/171>, abgerufen am 24.11.2024.