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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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diesem Zaubermittel, das ich hier dir gereicht habe; in
ihm wohnt unermeßliche Stärke und hohe Kraft: du
wirst dich nicht den Männern, sondern den unsterblichen
Göttern gewachsen fühlen. Auch deine Lanze, dein
Schwerdt und deinen Schild mußt du salben, dann wird
kein Eisen in Menschenhand, keine Flamme der Wunder¬
stiere dir schaden oder widerstehen können. Doch wirst
du so nicht lange seyn, sondern nur an jenem einen Tage:
dennoch entziehe dich auf keine Weise dem Streit. Ich
will dir auch noch ein anderes Hülfsmittel an die Hand
geben. Wann du nämlich die gewaltigen Stiere einge¬
spannt und das Blachfeld durchpflügt hast, und schon
die von dir ausgesäete Drachensaat aufgegangen ist, so
wirf unter sie einen mächtigen Stein: um diesen werden
jene rasenden Gesellen kämpfen, wie Hunde um ein Stück
Brod; indessen kannst du auf sie einstürzen und sie nie¬
dermachen. Dann magst du das goldene Vließ unange¬
fochten aus Kolchis mit dir nehmen: dann magst du ge¬
hen; ja gehe nur, wohin dir zu gehen beliebt!" So
sprach sie und heimliche Thränen rollten ihr über die
Wange hinab; denn sie dachte daran, daß der edle Held
weit fort über die Meere ziehen werde. Traurig redete
sie ihn an, indem sie ihn bei der Rechten faßte, denn der
Schmerz ließ sie vergessen, was sie that: "Wenn du nach
Hause kommst, so vergiß nicht den Namen Medea's;
auch ich will deiner, des Fernen gedenken. Sage mir
auch, wo dein Vaterland ist, nach welchem du auf deinem
schönen Schiffe zurückkehren wirst." Mit diesen Reden
der Jungfrau bemächtigte sich auch des Helden eine un¬
widerstehliche Neigung und er brach in die Worte aus:
"Glaube mir, hohe Fürstin, daß ich, wenn ich dem Tode

dieſem Zaubermittel, das ich hier dir gereicht habe; in
ihm wohnt unermeßliche Stärke und hohe Kraft: du
wirſt dich nicht den Männern, ſondern den unſterblichen
Göttern gewachſen fühlen. Auch deine Lanze, dein
Schwerdt und deinen Schild mußt du ſalben, dann wird
kein Eiſen in Menſchenhand, keine Flamme der Wunder¬
ſtiere dir ſchaden oder widerſtehen können. Doch wirſt
du ſo nicht lange ſeyn, ſondern nur an jenem einen Tage:
dennoch entziehe dich auf keine Weiſe dem Streit. Ich
will dir auch noch ein anderes Hülfsmittel an die Hand
geben. Wann du nämlich die gewaltigen Stiere einge¬
ſpannt und das Blachfeld durchpflügt haſt, und ſchon
die von dir ausgeſäete Drachenſaat aufgegangen iſt, ſo
wirf unter ſie einen mächtigen Stein: um dieſen werden
jene raſenden Geſellen kämpfen, wie Hunde um ein Stück
Brod; indeſſen kannſt du auf ſie einſtürzen und ſie nie¬
dermachen. Dann magſt du das goldene Vließ unange¬
fochten aus Kolchis mit dir nehmen: dann magſt du ge¬
hen; ja gehe nur, wohin dir zu gehen beliebt!“ So
ſprach ſie und heimliche Thränen rollten ihr über die
Wange hinab; denn ſie dachte daran, daß der edle Held
weit fort über die Meere ziehen werde. Traurig redete
ſie ihn an, indem ſie ihn bei der Rechten faßte, denn der
Schmerz ließ ſie vergeſſen, was ſie that: „Wenn du nach
Hauſe kommſt, ſo vergiß nicht den Namen Medea's;
auch ich will deiner, des Fernen gedenken. Sage mir
auch, wo dein Vaterland iſt, nach welchem du auf deinem
ſchönen Schiffe zurückkehren wirſt.“ Mit dieſen Reden
der Jungfrau bemächtigte ſich auch des Helden eine un¬
widerſtehliche Neigung und er brach in die Worte aus:
„Glaube mir, hohe Fürſtin, daß ich, wenn ich dem Tode

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[136/0162] dieſem Zaubermittel, das ich hier dir gereicht habe; in ihm wohnt unermeßliche Stärke und hohe Kraft: du wirſt dich nicht den Männern, ſondern den unſterblichen Göttern gewachſen fühlen. Auch deine Lanze, dein Schwerdt und deinen Schild mußt du ſalben, dann wird kein Eiſen in Menſchenhand, keine Flamme der Wunder¬ ſtiere dir ſchaden oder widerſtehen können. Doch wirſt du ſo nicht lange ſeyn, ſondern nur an jenem einen Tage: dennoch entziehe dich auf keine Weiſe dem Streit. Ich will dir auch noch ein anderes Hülfsmittel an die Hand geben. Wann du nämlich die gewaltigen Stiere einge¬ ſpannt und das Blachfeld durchpflügt haſt, und ſchon die von dir ausgeſäete Drachenſaat aufgegangen iſt, ſo wirf unter ſie einen mächtigen Stein: um dieſen werden jene raſenden Geſellen kämpfen, wie Hunde um ein Stück Brod; indeſſen kannſt du auf ſie einſtürzen und ſie nie¬ dermachen. Dann magſt du das goldene Vließ unange¬ fochten aus Kolchis mit dir nehmen: dann magſt du ge¬ hen; ja gehe nur, wohin dir zu gehen beliebt!“ So ſprach ſie und heimliche Thränen rollten ihr über die Wange hinab; denn ſie dachte daran, daß der edle Held weit fort über die Meere ziehen werde. Traurig redete ſie ihn an, indem ſie ihn bei der Rechten faßte, denn der Schmerz ließ ſie vergeſſen, was ſie that: „Wenn du nach Hauſe kommſt, ſo vergiß nicht den Namen Medea's; auch ich will deiner, des Fernen gedenken. Sage mir auch, wo dein Vaterland iſt, nach welchem du auf deinem ſchönen Schiffe zurückkehren wirſt.“ Mit dieſen Reden der Jungfrau bemächtigte ſich auch des Helden eine un¬ widerſtehliche Neigung und er brach in die Worte aus: „Glaube mir, hohe Fürſtin, daß ich, wenn ich dem Tode

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/162>, abgerufen am 24.11.2024.