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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Um sie als Gattin in die Heimat zu führen. Nun war
es ihr im Traume, als ob sie selbst den Kampf mit
den Stieren bestände, die Eltern aber wollten ihr Ver¬
sprechen nicht halten und dem Jason den Kampfpreis
nicht geben, weil nicht sie, sondern er, geheißen war, die
Stiere anzuschirren. Darüber war ein heftiger Streit
zwischen ihrem Vater und den Fremdlingen entbrannt
und beide Theile machten sie zur Schiedsrichterin. Da
wählte sie im Traume den Fremdling; bitterer Schmerz
bemächtigte sich der Eltern, sie schrieen laut auf -- und
mit diesem Schrei erwachte Medea.

Der Traum trieb sie nach dem Gemach ihrer
Schwester, aber lange hielt die Schaam sie unschlüssig
im Vorhofe, viermal verließ sie ihn und viermal kehrte
sie wieder zurück, und endlich warf sie sich wieder wei¬
nend in ihrem eigenen Gemache nieder. So fand sie
eine ihrer vertrauten jungen Dienerinnen. Diese hatte
Mitleid mit der Herrin und meldete der Schwester Me¬
dea's, was sie gesehen hatte. Chalciope empfing diese
Botschaft im Kreis ihrer Söhne, als sie eben sich mit
ihnen berieth, wie die Jungfrau zu gewinnen wäre. Sie
eilte in das Gemach der Schwester und fand sie, die
Wangen zerfleischend und in Thränen gebadet. "Was
ist dir geschehen, arme Schwester," sprach sie mit inni¬
gem Mitleid, "welcher Schmerz peinigt deine Seele? hat
der Himmel dir eine plötzliche Krankheit gesendet? hat
der Vater über mich und meine Sohne Grausames zu
dir gesprochen? O daß ich ferne wäre vom Elternhaus,
und da, wo man den Namen der Kolchier nicht hört!"


Schwab, das klass. Alterthum. I. 9

Um ſie als Gattin in die Heimat zu führen. Nun war
es ihr im Traume, als ob ſie ſelbſt den Kampf mit
den Stieren beſtände, die Eltern aber wollten ihr Ver¬
ſprechen nicht halten und dem Jaſon den Kampfpreis
nicht geben, weil nicht ſie, ſondern er, geheißen war, die
Stiere anzuſchirren. Darüber war ein heftiger Streit
zwiſchen ihrem Vater und den Fremdlingen entbrannt
und beide Theile machten ſie zur Schiedsrichterin. Da
wählte ſie im Traume den Fremdling; bitterer Schmerz
bemächtigte ſich der Eltern, ſie ſchrieen laut auf — und
mit dieſem Schrei erwachte Medea.

Der Traum trieb ſie nach dem Gemach ihrer
Schweſter, aber lange hielt die Schaam ſie unſchlüſſig
im Vorhofe, viermal verließ ſie ihn und viermal kehrte
ſie wieder zurück, und endlich warf ſie ſich wieder wei¬
nend in ihrem eigenen Gemache nieder. So fand ſie
eine ihrer vertrauten jungen Dienerinnen. Dieſe hatte
Mitleid mit der Herrin und meldete der Schweſter Me¬
dea's, was ſie geſehen hatte. Chalciope empfing dieſe
Botſchaft im Kreis ihrer Söhne, als ſie eben ſich mit
ihnen berieth, wie die Jungfrau zu gewinnen wäre. Sie
eilte in das Gemach der Schweſter und fand ſie, die
Wangen zerfleiſchend und in Thränen gebadet. „Was
iſt dir geſchehen, arme Schweſter,“ ſprach ſie mit inni¬
gem Mitleid, „welcher Schmerz peinigt deine Seele? hat
der Himmel dir eine plötzliche Krankheit geſendet? hat
der Vater über mich und meine Sohne Grauſames zu
dir geſprochen? O daß ich ferne wäre vom Elternhaus,
und da, wo man den Namen der Kolchier nicht hört!“


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[129/0155] Um ſie als Gattin in die Heimat zu führen. Nun war es ihr im Traume, als ob ſie ſelbſt den Kampf mit den Stieren beſtände, die Eltern aber wollten ihr Ver¬ ſprechen nicht halten und dem Jaſon den Kampfpreis nicht geben, weil nicht ſie, ſondern er, geheißen war, die Stiere anzuſchirren. Darüber war ein heftiger Streit zwiſchen ihrem Vater und den Fremdlingen entbrannt und beide Theile machten ſie zur Schiedsrichterin. Da wählte ſie im Traume den Fremdling; bitterer Schmerz bemächtigte ſich der Eltern, ſie ſchrieen laut auf — und mit dieſem Schrei erwachte Medea. Der Traum trieb ſie nach dem Gemach ihrer Schweſter, aber lange hielt die Schaam ſie unſchlüſſig im Vorhofe, viermal verließ ſie ihn und viermal kehrte ſie wieder zurück, und endlich warf ſie ſich wieder wei¬ nend in ihrem eigenen Gemache nieder. So fand ſie eine ihrer vertrauten jungen Dienerinnen. Dieſe hatte Mitleid mit der Herrin und meldete der Schweſter Me¬ dea's, was ſie geſehen hatte. Chalciope empfing dieſe Botſchaft im Kreis ihrer Söhne, als ſie eben ſich mit ihnen berieth, wie die Jungfrau zu gewinnen wäre. Sie eilte in das Gemach der Schweſter und fand ſie, die Wangen zerfleiſchend und in Thränen gebadet. „Was iſt dir geſchehen, arme Schweſter,“ ſprach ſie mit inni¬ gem Mitleid, „welcher Schmerz peinigt deine Seele? hat der Himmel dir eine plötzliche Krankheit geſendet? hat der Vater über mich und meine Sohne Grauſames zu dir geſprochen? O daß ich ferne wäre vom Elternhaus, und da, wo man den Namen der Kolchier nicht hört!“ Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 9

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/155>, abgerufen am 24.11.2024.