Aber Kokalus war über den Einfall des fremden Tyran¬ nen entrüstet, und sann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er stellte sich an, als ginge er in die Absich¬ ten des Kreters ganz ein, versprach ihm in Allem zu willfahren und lud ihn zu dem Ende zu einer Zusammen¬ kunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gastfreund¬ schaft von Kokalus aufgenommen. Ein warmes Bad sollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der Wanne saß, ließ Kokalus diese so lange heitzen, bis Minos in dem siedenden Wasser erstickte. Die Leiche überließ der König von Sicilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der König sey im Bade ausgegleitet und in das heiße Wasser gefallen. Hierauf wurde Minos von seinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent bestattet und über seinem Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut. Dädalus blieb bei dem Könige Kokalus in ununterbrochener Gunst; er zog viele und berühmte Künstler und wurde der Grün¬ der seiner Kunst auf Sicilien. Glücklich aber war er seit dem Sturze seines Sohnes Ikarus nicht mehr, und, während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Ansehen durch die Werke seiner Hand verlieh, durchlebte er selbst ein kummervolles und trübsinniges Alter. Er starb auf der Insel Sicilien und wurde dort begraben.
Aber Kokalus war über den Einfall des fremden Tyran¬ nen entrüſtet, und ſann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er ſtellte ſich an, als ginge er in die Abſich¬ ten des Kreters ganz ein, verſprach ihm in Allem zu willfahren und lud ihn zu dem Ende zu einer Zuſammen¬ kunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gaſtfreund¬ ſchaft von Kokalus aufgenommen. Ein warmes Bad ſollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er aber in der Wanne ſaß, ließ Kokalus dieſe ſo lange heitzen, bis Minos in dem ſiedenden Waſſer erſtickte. Die Leiche überließ der König von Sicilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der König ſey im Bade ausgegleitet und in das heiße Waſſer gefallen. Hierauf wurde Minos von ſeinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent beſtattet und über ſeinem Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut. Dädalus blieb bei dem Könige Kokalus in ununterbrochener Gunſt; er zog viele und berühmte Künſtler und wurde der Grün¬ der ſeiner Kunſt auf Sicilien. Glücklich aber war er ſeit dem Sturze ſeines Sohnes Ikarus nicht mehr, und, während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt hatte, ein heiteres und lachendes Anſehen durch die Werke ſeiner Hand verlieh, durchlebte er ſelbſt ein kummervolles und trübſinniges Alter. Er ſtarb auf der Inſel Sicilien und wurde dort begraben.
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Aber Kokalus war über den Einfall des fremden Tyran¬
nen entrüſtet, und ſann auf Mittel und Wege, ihn zu
verderben. Er ſtellte ſich an, als ginge er in die Abſich¬
ten des Kreters ganz ein, verſprach ihm in Allem zu
willfahren und lud ihn zu dem Ende zu einer Zuſammen¬
kunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gaſtfreund¬
ſchaft von Kokalus aufgenommen. Ein warmes Bad
ſollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er
aber in der Wanne ſaß, ließ Kokalus dieſe ſo lange
heitzen, bis Minos in dem ſiedenden Waſſer erſtickte.
Die Leiche überließ der König von Sicilien den Kretern,
die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der
König ſey im Bade ausgegleitet und in das heiße Waſſer
gefallen. Hierauf wurde Minos von ſeinen Kriegern
mit großer Pracht bei Agrigent beſtattet und über ſeinem
Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut. Dädalus
blieb bei dem Könige Kokalus in ununterbrochener Gunſt;
er zog viele und berühmte Künſtler und wurde der Grün¬
der ſeiner Kunſt auf Sicilien. Glücklich aber war er
ſeit dem Sturze ſeines Sohnes Ikarus nicht mehr, und,
während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt
hatte, ein heiteres und lachendes Anſehen durch die Werke
ſeiner Hand verlieh, durchlebte er ſelbſt ein kummervolles
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/114>, abgerufen am 24.11.2024.
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