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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

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Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen
ersten Becher ausgegossen, schüttelte, so wie sie den Trank
gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen
aller Gäste, zu ächzen und zu toben an, und starb unter
Flügelschlag und Zuckungen. Da erhub sich Ion von
seinem Sitze, streifte sein Gewand zürnend von den Ar¬
men, ballte die Fäuste und rief: "wo ist der Mensch
der mich tödten wollte? rede, Alter! denn du hast deine
Hand dazu geliehen, du hast mir den Trank gemischt!"
damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht
wieder los zu lassen. Dieser, überrascht und erschrocken,
gestand die ganze Frevelthat, als von Kreusen herrührend.
Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthus
Sohn erklärte Ion das Zelt und alle Gäste folgten ihm
in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien
stand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmsten
Delphiern und sprach: "Heilige Erde, du bist mein Zeu¬
ge, daß dieses fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus
dem Wege räumen will!" -- "Steiniget, steiniget sie!"
erscholl es von der Versammlung der Delphier wie aus
Einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf,
die Verbrecherin zu suchen. Xuthus selbst, dem die schreck¬
liche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde
von dem Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was
er that.

Kreusa hatte am Altar Apollo's die Früchte ihrer
verzweifelten That erwartet. Diese aber keimten ganz
anders auf, als sie vermuthet hatte. Ein Tosen aus der
Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf, und noch
ehe es ganz nahe kam, war dem heranstürmenden Haufen
einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr selbst vor An¬

Taube, die ſich an die Stelle geſetzt hatte, wo Ion ſeinen
erſten Becher ausgegoſſen, ſchüttelte, ſo wie ſie den Trank
gekoſtet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen
aller Gäſte, zu ächzen und zu toben an, und ſtarb unter
Flügelſchlag und Zuckungen. Da erhub ſich Ion von
ſeinem Sitze, ſtreifte ſein Gewand zürnend von den Ar¬
men, ballte die Fäuſte und rief: „wo iſt der Menſch
der mich tödten wollte? rede, Alter! denn du haſt deine
Hand dazu geliehen, du haſt mir den Trank gemiſcht!“
damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht
wieder los zu laſſen. Dieſer, überraſcht und erſchrocken,
geſtand die ganze Frevelthat, als von Krëuſen herrührend.
Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthus
Sohn erklärte Ion das Zelt und alle Gäſte folgten ihm
in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien
ſtand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmſten
Delphiern und ſprach: „Heilige Erde, du biſt mein Zeu¬
ge, daß dieſes fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus
dem Wege räumen will!“ — „Steiniget, ſteiniget ſie!“
erſcholl es von der Verſammlung der Delphier wie aus
Einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf,
die Verbrecherin zu ſuchen. Xuthus ſelbſt, dem die ſchreck¬
liche Entdeckung ſeine Beſinnung geraubt hatte, wurde
von dem Strome mit fortgeriſſen, ohne zu wiſſen, was
er that.

Krëuſa hatte am Altar Apollo's die Früchte ihrer
verzweifelten That erwartet. Dieſe aber keimten ganz
anders auf, als ſie vermuthet hatte. Ein Toſen aus der
Ferne ſchreckte ſie aus ihrer Verſunkenheit auf, und noch
ehe es ganz nahe kam, war dem heranſtürmenden Haufen
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[77/0103] Taube, die ſich an die Stelle geſetzt hatte, wo Ion ſeinen erſten Becher ausgegoſſen, ſchüttelte, ſo wie ſie den Trank gekoſtet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäſte, zu ächzen und zu toben an, und ſtarb unter Flügelſchlag und Zuckungen. Da erhub ſich Ion von ſeinem Sitze, ſtreifte ſein Gewand zürnend von den Ar¬ men, ballte die Fäuſte und rief: „wo iſt der Menſch der mich tödten wollte? rede, Alter! denn du haſt deine Hand dazu geliehen, du haſt mir den Trank gemiſcht!“ damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder los zu laſſen. Dieſer, überraſcht und erſchrocken, geſtand die ganze Frevelthat, als von Krëuſen herrührend. Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthus Sohn erklärte Ion das Zelt und alle Gäſte folgten ihm in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien ſtand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmſten Delphiern und ſprach: „Heilige Erde, du biſt mein Zeu¬ ge, daß dieſes fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus dem Wege räumen will!“ — „Steiniget, ſteiniget ſie!“ erſcholl es von der Verſammlung der Delphier wie aus Einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu ſuchen. Xuthus ſelbſt, dem die ſchreck¬ liche Entdeckung ſeine Beſinnung geraubt hatte, wurde von dem Strome mit fortgeriſſen, ohne zu wiſſen, was er that. Krëuſa hatte am Altar Apollo's die Früchte ihrer verzweifelten That erwartet. Dieſe aber keimten ganz anders auf, als ſie vermuthet hatte. Ein Toſen aus der Ferne ſchreckte ſie aus ihrer Verſunkenheit auf, und noch ehe es ganz nahe kam, war dem heranſtürmenden Haufen einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr ſelbſt vor An¬

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Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/103>, abgerufen am 22.11.2024.