den Saal des Zeltes und maßte sich das Amt des Mund¬ schenken an. Xuthus erkannte in ihm jenen greisen Die¬ ner seiner Gemahlin Kreusa, lobte den Gästen seinen Eifer und seine Treue, und ließ ihn arglos schalten. Der Alte stellte sich an den Schenktisch und fing an sich der Becher anzunehmen, und die Gäste zu bedienen. Als nun gegen den Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Ta¬ fel wegzunehmen und den Gästen große silberne und gol¬ dene Trinkgefässe vorzusetzen. Er selbst ergriff das herr¬ lichste Gefäß, und trat, als wollte er damit seinen neuen jungen Herren ehren, an den Schenktisch, füllte es bis zu oberst mit köstlichem Weine, schüttete aber zugleich un¬ vermerkt ein tödtliches Gift in den Becher. Indem er sich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zu¬ fälliger Weise einem der nahestehenden Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachsen war, erkannte darin eine böse Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden schüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er selbst feierlich das Trankopfer ausgoß, wäh¬ rend alle Gäste aus ihren Bechern dasselbe thaten. Wäh¬ rend dieß geschah, flatterte eine Schaar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Got¬ tes aufgefüttert werden, lustig in das Zelt herein. Als sie die Ströme Weines sahen, die von allen Seiten aus¬ gegossen wurden, ließen sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an von dem herumschwimmen¬ den Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen: und allen übrigen schadete das Trankopfer nicht, nur die eine
den Saal des Zeltes und maßte ſich das Amt des Mund¬ ſchenken an. Xuthus erkannte in ihm jenen greiſen Die¬ ner ſeiner Gemahlin Krëuſa, lobte den Gäſten ſeinen Eifer und ſeine Treue, und ließ ihn arglos ſchalten. Der Alte ſtellte ſich an den Schenktiſch und fing an ſich der Becher anzunehmen, und die Gäſte zu bedienen. Als nun gegen den Schluß des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Ta¬ fel wegzunehmen und den Gäſten große ſilberne und gol¬ dene Trinkgefäſſe vorzuſetzen. Er ſelbſt ergriff das herr¬ lichſte Gefäß, und trat, als wollte er damit ſeinen neuen jungen Herren ehren, an den Schenktiſch, füllte es bis zu oberſt mit köſtlichem Weine, ſchüttete aber zugleich un¬ vermerkt ein tödtliches Gift in den Becher. Indem er ſich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zu¬ fälliger Weiſe einem der naheſtehenden Knechte ein Fluch. Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachſen war, erkannte darin eine böſe Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden ſchüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er ſelbſt feierlich das Trankopfer ausgoß, wäh¬ rend alle Gäſte aus ihren Bechern daſſelbe thaten. Wäh¬ rend dieß geſchah, flatterte eine Schaar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Got¬ tes aufgefüttert werden, luſtig in das Zelt herein. Als ſie die Ströme Weines ſahen, die von allen Seiten aus¬ gegoſſen wurden, ließen ſie ſich, lüſtern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an von dem herumſchwimmen¬ den Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen: und allen übrigen ſchadete das Trankopfer nicht, nur die eine
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den Saal des Zeltes und maßte ſich das Amt des Mund¬
ſchenken an. Xuthus erkannte in ihm jenen greiſen Die¬
ner ſeiner Gemahlin Krëuſa, lobte den Gäſten ſeinen
Eifer und ſeine Treue, und ließ ihn arglos ſchalten.
Der Alte ſtellte ſich an den Schenktiſch und fing an ſich
der Becher anzunehmen, und die Gäſte zu bedienen. Als
nun gegen den Schluß des Mahles die Flöten ertönten,
befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Ta¬
fel wegzunehmen und den Gäſten große ſilberne und gol¬
dene Trinkgefäſſe vorzuſetzen. Er ſelbſt ergriff das herr¬
lichſte Gefäß, und trat, als wollte er damit ſeinen neuen
jungen Herren ehren, an den Schenktiſch, füllte es bis
zu oberſt mit köſtlichem Weine, ſchüttete aber zugleich un¬
vermerkt ein tödtliches Gift in den Becher. Indem er
ſich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des
Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zu¬
fälliger Weiſe einem der naheſtehenden Knechte ein Fluch.
Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels
aufgewachſen war, erkannte darin eine böſe Vorbedeutung
und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden
ſchüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus
welchem er ſelbſt feierlich das Trankopfer ausgoß, wäh¬
rend alle Gäſte aus ihren Bechern daſſelbe thaten. Wäh¬
rend dieß geſchah, flatterte eine Schaar heiliger Tauben,
die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Got¬
tes aufgefüttert werden, luſtig in das Zelt herein. Als
ſie die Ströme Weines ſahen, die von allen Seiten aus¬
gegoſſen wurden, ließen ſie ſich, lüſtern gemacht, auf den
Boden nieder und fingen an von dem herumſchwimmen¬
den Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen: und
allen übrigen ſchadete das Trankopfer nicht, nur die eine
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Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/102>, abgerufen am 22.11.2024.
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