Schulze, Wilhelm: Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. Berlin, 1911.
<TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0011" n="11"/> <p><lb/> Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. 9</p> <p><lb/> gemilderter Schonungslosigkeit. Es geht um die auf noch wüstem Gebiete<lb/> dringlichste Frage, wie man Texte aus mittelirischen, oft verwahrlosten Hand-<lb/> schriften edieren, kritisch, exegetisch, lexikographisch behandeln soll. Der<lb/> Schüler Scherers und Müllenhoffs läßt mit Recht von den strengen<lb/> Forderungen der Methode nichts abdingen, aber über all den Unzulänglich-<lb/> keiten und Halbheiten, die er mit fruchtbarer, in die Tiefe dringender und<lb/> in die Weite schauender Kritik aufdeckt, verliert sein Auge das rechte<lb/> Maß für das Nützliche und Fördernde, das in einer Periode tastender An-<lb/> fänge auch minder gelungenen Leistungen innewohnen mag. Den wuch-<lb/> tigen Hieben des unerwarteten Angriffs antwortete, begreiflich genug, ein<lb/> mißtöniges Echo. Von dem Gekränkten erwartet niemand die Gelassenheit<lb/> gerecht abwägenden Urteils. Wer aber heute nach einem Menschenalter<lb/> als Unbeteiligter die Akten des Streites ohne Voreingenommenheit aufschlägt,<lb/> braucht mit dem Bekenntnisse nicht zurückzuhalten, daß die ‘Keltischen<lb/> Studien’ eine Aufrüttelung und Gewissensschärfung bedeuten, die der Kelto-<lb/> logie jener Tage in Deutschland und Frankreich dringend not tat. Die<lb/> konzentrischen Gegenangriffe der Getroffenen richteten sich wohlweislich fast<lb/> nur gegen die Außenwerke der von Zimmer gehaltenen Stellung; seine<lb/> Hauptposition erwies sich eben doch als zu fest gegründet und zu gut be-<lb/> wehrt und spottete der Angreifer (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1882, 673).<lb/> Aber die Resonanz williger Anerkennung blieb fortan Zimmers Arbeiten<lb/> aus den Kreisen der nächsten Fachgenossen versagt. Es war eine Einsam-<lb/> keit um ihn, die den von seiner Forschung, selbst ihren Irrtümern, nach<lb/> allen Richtungen ausstrahlenden Anregungen einen Teil ihrer natürlichen<lb/> Wirkungskraft, wenigstens für die Gegenwart, rauben mußte.<lb/> In den programmatischen Forderungen, die das erste Heft der Kelti-<lb/> schen Studien au£stellt und an Probestücken der Forschung gleich praktisch<lb/> exemplifiziert, kündigen sich fast alle Aufgaben einer ihres Namens würdigen<lb/> irischen Philologie vernehmlich an. Wie strebt doch in diesem Kopfe alles<lb/> nach Zusammenhang! Keine Tatsache, kein Zeugnis, das in seiner zufälligen<lb/> Isoliertheit verharrte und nicht nach seinem Platze in der Folge der Ge-<lb/> schehnisse, in der Kette der Überlieferung suchte! Die Geschichte dieser<lb/> Überlieferung wird zum Hebel der Kritik und zu einem Mittel historischer<lb/> Erhellung versunkener Zeiten. Die in flüchtigen Strichen gezeichnete Ent-<lb/> wicklung der einheimischen irischen Lexikographie gibt dem modernen Be-<lb/> nutzer erst den rechten Maßstab für die Verwendbarkeit des von ihr ge-<lb/> Phil.-hist. Klasse. 1911. Gedächtnisr. I. 2</p> </div> </body> </text> </TEI> [11/0011]
Gedächtnisrede auf Heinrich Zimmer. 9
gemilderter Schonungslosigkeit. Es geht um die auf noch wüstem Gebiete
dringlichste Frage, wie man Texte aus mittelirischen, oft verwahrlosten Hand-
schriften edieren, kritisch, exegetisch, lexikographisch behandeln soll. Der
Schüler Scherers und Müllenhoffs läßt mit Recht von den strengen
Forderungen der Methode nichts abdingen, aber über all den Unzulänglich-
keiten und Halbheiten, die er mit fruchtbarer, in die Tiefe dringender und
in die Weite schauender Kritik aufdeckt, verliert sein Auge das rechte
Maß für das Nützliche und Fördernde, das in einer Periode tastender An-
fänge auch minder gelungenen Leistungen innewohnen mag. Den wuch-
tigen Hieben des unerwarteten Angriffs antwortete, begreiflich genug, ein
mißtöniges Echo. Von dem Gekränkten erwartet niemand die Gelassenheit
gerecht abwägenden Urteils. Wer aber heute nach einem Menschenalter
als Unbeteiligter die Akten des Streites ohne Voreingenommenheit aufschlägt,
braucht mit dem Bekenntnisse nicht zurückzuhalten, daß die ‘Keltischen
Studien’ eine Aufrüttelung und Gewissensschärfung bedeuten, die der Kelto-
logie jener Tage in Deutschland und Frankreich dringend not tat. Die
konzentrischen Gegenangriffe der Getroffenen richteten sich wohlweislich fast
nur gegen die Außenwerke der von Zimmer gehaltenen Stellung; seine
Hauptposition erwies sich eben doch als zu fest gegründet und zu gut be-
wehrt und spottete der Angreifer (Göttingische Gelehrte Anzeigen 1882, 673).
Aber die Resonanz williger Anerkennung blieb fortan Zimmers Arbeiten
aus den Kreisen der nächsten Fachgenossen versagt. Es war eine Einsam-
keit um ihn, die den von seiner Forschung, selbst ihren Irrtümern, nach
allen Richtungen ausstrahlenden Anregungen einen Teil ihrer natürlichen
Wirkungskraft, wenigstens für die Gegenwart, rauben mußte.
In den programmatischen Forderungen, die das erste Heft der Kelti-
schen Studien au£stellt und an Probestücken der Forschung gleich praktisch
exemplifiziert, kündigen sich fast alle Aufgaben einer ihres Namens würdigen
irischen Philologie vernehmlich an. Wie strebt doch in diesem Kopfe alles
nach Zusammenhang! Keine Tatsache, kein Zeugnis, das in seiner zufälligen
Isoliertheit verharrte und nicht nach seinem Platze in der Folge der Ge-
schehnisse, in der Kette der Überlieferung suchte! Die Geschichte dieser
Überlieferung wird zum Hebel der Kritik und zu einem Mittel historischer
Erhellung versunkener Zeiten. Die in flüchtigen Strichen gezeichnete Ent-
wicklung der einheimischen irischen Lexikographie gibt dem modernen Be-
nutzer erst den rechten Maßstab für die Verwendbarkeit des von ihr ge-
Phil.-hist. Klasse. 1911. Gedächtnisr. I. 2
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